Dieser Text ist 1996 entstanden; online seit ca. 2005.
Die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Werk Kafkas beginnt in der Nachkriegszeit in Deutschland erstaunlich rasch. Sie ist nicht nur der unermüdlichen Editions- und Interpretationstätigkeit Max Brods zu verdanken (der eine erste Ausgabe der Gesammelten Schriften, die schon einen Teil der Briefe und Tagebücher enthalten, bereits 1935-37 in Berlin/Prag herausbringt und 1946 eine zweite bei Schocken, New York) oder der internationalen Rezeption, sondern wohl auch dem Umstand, dass Kafkas Werk den Nerv der Zeit trifft. Dies zeigt seine Inanspruchnahme durch philosophische oder religiöse Weltanschauungen. Als Beispiele genügen hier die existenzialistischen Deutungen von Camus (Der Mythos von Sisyphos, deutsch 1950, darin: „Die Hoffnung und das Absurde im Werk von Franz Kafka“) oder von Max Bense in Anschluß an Heidegger (Die Theorie Kafkas, 1952), sowie die religiös orientierten von Max Brod (Franz Kafkas Glauben und Lehre, 1948; Franz Kafka als wegweisende Gestalt, 1951).(1)
Diese spekulativen Deutungen, denen es kaum darum geht, die Texte als solche zu analysieren, machen auf zwei Eigenheiten der Rezeptionssituation aufmerksam. Zum einen wird bald Kritik geübt an der philologischen Maßstäben nicht genügenden Editionspraxis von Max Brod (so von Friedrich Beißner, Gerhard Kaiser, Fritz Martini, Hermann Uyttersprot), dem es nicht gelungen war, eine verlässliche Textgrundlage zu bieten. Das betrifft vor allem die drei großen Romanfragmente, wo dieses Manko die Interpreten besonders behindert. Zum anderen scheint Kafkas Textwelt durch ihre Offenheit zu den verschiedensten Deutungen geradezu herauszufordern, ohne von sich aus eine bestimmte nahezulegen: eine herausfordernde Situation, in der sich die Philologie darauf besinnt, dass sie Profis in ihren Reihen hat, die mit verlässlichem, erprobten Instrumentarium nun daran gehen können, das Deutungsgeschäft und jenes kompliziertere der Wertung in die Hand zu nehmen.(2)
Immerhin nähert sich die Germanistik damit einem Erzähler, der in der Nazizeit als „entartet“ galt und dessen Bücher verbrannt worden sind. Sie tut es offenbar ohne Schuldgefühle – tut sie es auch mit der nötigen Unbefangenheit und Naivität?
Friedrich Beißner z.B. macht sich daran, in seinem Oktober 1951 gehaltenen Vortrag Der Erzähler Franz Kafka (Stuttgart 1952) die Frage nach Kafkas Kunst zuzuspitzen „auf die Frage nach seiner Erzählhaltung“ (S.9). Gerade für das Werk Kafkas sei dies eine wichtige Frage, um Kafkas „einsinnigem“ (S.28) Erzählen auf die Spur zu kommen. Beißner geht es jedoch zunächst weniger um eine Analyse der Erzählhaltung und daran anschließend um eine Textinterpretation, sondern um den Nachweis der großen Kunst Kafkas, „die es ihm erlaubt, in einem gottverlassenen Jahrhundert epische Werke zu schaffen, deren jedes, auch das kleinste noch, eine einheitlich strukturierte Welt darbietet, und so das Vollkommene leistet“ (S.10).
Die „Gottverlassenheit“ ist in erster Linie ein Euphemismus für die Zeit des Nationalsozialismus. Ansonsten: Der Zusammenhang zwischen Gottverlassenheit des (bis zu Kafkas Tod gerade Viertel-) Jahrhunderts und der vollkommenen Welt der Kafkaschen Dichtung stellt sich nicht von selber her; erstaunlich gar finde ich, dass sich Beißner durch die Vollkommenheit der Form (bei Fragment gebliebenen Hauptwerken!) getröstet sieht.
Der Vortragende unternimmt es, eine Romantheorie auszubreiten, an die schon Goethe sich nicht gehalten hat (S.12), auch nicht Flaubert oder Dostojewski - aus gutem Grund. Beißner stellt, vor allem bei den modernen Romanen, eine „Missachtung der Monadenlehre“ Leibniz' fest (S.18) – erstaunlicher Vorwurf –, womit er meint, dass ein allwissender Erzähler nach Belieben die Gedanken seiner Helden mitteilt oder nicht, also in sie hineinsieht. „Solch unglaubhafte Allwissenheit“ (S.19) ist eine „Verwirrung der Perspektiven“ (S.21). Die Pointe: Kafka schreibt nicht so. „Aber darin liegt das Besondre, das Kafkaische: dass eine in der Ich-Form vorgetragene Erzählung nichts voraussetzt, dass der Erzähler im Augenblick nicht mehr zu wissen scheint als der Zuhörer oder Leser“ (S.32).
Unbestritten trägt Beißner damit eine wesentliche Beobachtung vor. Publikumswirksam nutzt er sie dann zur - gehaltlosen - Polemik gegen die „mit existenziell ernsthafter Miene aufgetischten Absurditäten: eine Zumutung für den Leser!“ (S.37) der jungen Autoren.
Fazit: Diese kleine Schrift Beißners erstaunt in ihrem Bedürfnis, aus der literarischen Tradition (aus noch nicht gottverlassenen Jahrhunderten, angefangen bei Homer) Gewährsleute anzuführen für eine Theorie, die eben traditionell, d.h. künstlerisch betrachtet nicht auf der Höhe der Zeit ist. Künstlerischer Avantgardismus ist kein Wert für Beißner. Hier ergeben sich Anknüpfungspunkte zu den ästhetischen Entwürfen Emil Staigers und Wolfgang Kaysers. – Stattdessen freut sich Beißner an „Wahrheit“ im Sinne von Glaubwürdigkeit (s.o.). Der Hölderlinphilologe (Beißner betreute die sogenannte Stuttgarter Ausgabe der Werke Hölderlins) lässt die Frage offen, wie die „Gottesnähe“, die Präsenz (Steiner) der Form bei Kafka sich zur Gottverlassenheit seiner Protagonisten verhält. (3)
Die ersten Gesamtdarstellungen des Werks und Lebens Kafkas von deutschen Germanisten sind die von Hans Siegbert Reiß (Heidelberg, 1952) und Wilhelm Emrich (Bonn, 1958)
Reiß ist, als sein Buch erscheint, Dozent für deutsche Sprache und Literatur an der London School of Economics and Political Science der Universität London; er hat also wohl den zweiten Weltkrieg in England verbracht. Seine „Betrachtung“ trägt ihren Titel ganz zu Recht; sie ist mit wenig analytischem Elan geschrieben, über weite Strecken paraphrasierend oder zitierend, wenn es um Kafkas Werke geht, und von bemerkenswerter Blindheit. Reiß hat seinen Brod und seinen Camus gut gelesen; er weiß um die religiöse Dimension des Kafkaschen Werkes und weist ebenso auf ihre 'Absurden' Züge hin.
Er beginnt mit einer kurzen Biographie Kafkas, um eine gestörte Psyche, geistige Kämpfe und eine Neurose zu diagnostizieren (vgl. S.31). „Die Geisteshaltung und die Kunst Kafkas müssen [aber] gesondert von seinem Leben beurteilt werden“ (S.31). Diesen Vorsatz gibt Reiß sogleich wieder auf; er stellt über den Helden der Verwandlung, Gregor Samsa, fest: „Gregors Probleme sind Kafkas eigene Probleme“ (S.39). In munterer Zusammenstellung werden für eine allgemeine Interpretation des Kafkaschen Menschen- und Weltbildes Werke und Tagebücher zitiert, ohne Rücksicht auf Entstehungszeit und ohne theoretische Begründung. Wie für Brod ist für Reiß die Dichtung Kafkas symbolisch, vom „Urteil“ über den „Prozeß“ bis zum „Schloß“, wobei jedesmal die „Vereinzelung“ des Menschen beschrieben wird: „Dem Nichts gegenüber, dürsten sie [Kafkas Helden] nach Gott, der sie erlösen kann“ (S.125). „Es ist eine harte Lehre, die der Abdankung der Vernunft“ (S.124), welche nämlich der Hoffnung entgegenwirkt. - Die interpretierende Verbindung von biographischen Fakten und Schriften ist willkürlich; so deutet Reiß z.B. den „schlängelnden Schriftzug“ der Kafkaschen Sätze als „ein Ausdrucksbeleg für die Unsicherheit und Angst des Verfassers selbst“ (S.138) oder erkennt in den Frauen in Kafkas Texten Kafkas Unfähigkeit zur persönlichen Bindung an eine Frau etwa in einer Ehe (S.91). Blindheit muß man Reiß attestieren, wenn ihm zwar auffällt, dass Kafkas Sprache „oft einen rein sachlichen Ton wie in juristischen Schriften und Dokumenten“ hat (S.171), ihm aber dabei nicht einfällt, dass Kafka promovierter Jurist war.
Obwohl also Reiß das Kafkasche Werk, soweit es ihm bekannt ist, einerseits als anthropologisch-existenzialistische Stellungnahme Kafkas, andererseits als Ausdruck dessen persönlicher Krise liest, stellt sich ihm die Frage nach dem künstlerischen Wert des Betrachteten: „Des Dichters stilistische Fähigkeiten lassen nach, sobald er reale Vorgänge wiedergibt. Die Beschreibung des New Yorker Verkehrs ist schwach. Hier fehlen die Beteiligung des Gefühls und die Strenge der Beobachtung […]. Die Handlung entfaltet sich langsam und zufällig“ (S.136). Wo Kafka keine realen Vorgänge gestaltet, ist er hingegen „ungemein originell“ (S.144). Insgesamt ist er „schwer verständlich“ (S.166).
Reiß' Kritik an Kafka ist aufschlussreich. Sie weist zum einen noch einmal auf die – aus heutiger Kenntnis verfehlte – allgemeine Interpretation des Kafkaschen Werkes, zum anderen auf einen Wertekanon, der ihn „ästhetischen Genuß“ (S.167) sowohl für den Inhalt und dessen logischen Fortschritt, als auch für die Form erwarten und suchen läßt: „Oft hat man den Eindruck, Kafkas Einbildungskraft habe sich völlig verirrt. Die Verwandlung als Erzählung ist unangenehm und widerwärtig. Wenn die Greuel einer aus den Fugen geratenen Welt und die Agonie ihrer Verdammnis vorgestellt werden sollen, muss ein Dichter zwar seine Zuflucht zu einer heftigen Ausdrucksweise nehmen dürfen; doch hier scheint es, als ob der Nachtseite der menschlichen Existenz zu viel Gewicht beigemessen wird. […] Bei solchen Schilderungen muss es bedenklich stimmen, ob alles Schöne des Daseins wirklich so überschattet ist und ob hier die Wahrheit nicht entstellt ist“ (S.173). Das schreibt er, nachdem die Geschichte gerade ihren Beweis geführt hatte, dass die „Nachtseite der menschlichen Existenz“ viel dunkler (oder gewichtiger) ist, als Kafka je ahnen konnte!(4)
[19] Jost Hermand nennt in seiner Geschichte der Germanistik (Reinbek : Rowohlt, 1994) Emrich unter den Germanisten, deren „antisemitische oder betont völkisch akzentuierten Aufsätze“ (S.146) nach dem Germanistentag 1966 bekannt geworden sind.
[20] Emrichs Buch ist die umfangreichste und anspruchsvollste der hier betrachteten Studien. – Lakonisch hält Emrich in einer Endnote fest: „Man kann drei Hauptströmungen dieser [bisherigen Kafka-] Forschung unterscheiden“, um dann mit Nennung von Vertretern die theologische, die psychoanalytische und die soziologische Richtung zu unterscheiden (S.420). Jede dieser Richtungen, meint Emrich, verengt Kafkas Texte auf das ihr eigene Thema. Dieser Gefahr, die darin besteht, mit inhaltlichen Prämissen (Vorurteilen) an die Texte heranzugehen, sollte Emrich entgehen können, nachdem er sie erkannt und benannt hat. Misstrauisch macht dann allerdings schon die großspurige Feststellung: „Im vorliegenden Buch ging es um das künstlerische Aufbaugesetz und die geistige Intention der Dichtungen Kafkas. Sie lassen sich aus den vorliegenden Texten einwandfrei ermitteln“ (S.418, Hervorhebung von mir). Das Wort „einwandfrei“ ist mehrere Male den Interpretationen Emrichs beigesellt; das liest sich dann z.B. so: „Hilfswilliges Bereitsein für die volle Wahrheit bedeutet die Fähigkeit, auf alle eigenen begrenzten Vorstellungen, Wünsche, Willensanstrengungen zu verzichten, sich einzulassen auf die Fülle alles dessen, was ist. Dieses Bereitsein schließt freilich in sich den Verzicht auf ein eigenes 'Leben'. Das geht einwandfrei aus der Stelle hervor: 'will unter dem Druck ihres Bereitseins den Knochen sich öffnen lassen, will sie dann zu ihrem Leben, das ihnen lieb ist, entlassen'“ (S.50). Emrich glaubt nicht nur „einwandfrei“ zu interpretieren, er hat auch den Schlüssel zu Kafkas Dichtung. Kafka geht es darum, das „universell Allgemeine“ darzustellen (S.16). Das ist inhaltloses Blabla (eine „möglichst inhaltslose Formulierung“, wie Emrich selbst weiß, S.22) auf den ersten Blick, auf den zweiten ist es nicht so allgemein, wie es sich gibt: „Ja die ganze Dichtung Kafkas kann begriffen werden als ein ununterbrochenes Ringen darum, die Gesetzlosigkeit der menschlichen Welt – den im Wertzerfall des Abendlandes entstandenen 'Relativismus' – zu überwinden und eine unverbrüchliche, wahre, allgemein verbindliche Rechtsordnung zu gewinnen“ (S.42). Da haben wir's: Kafkas Dichtung ist ethisch, nicht im Sinne einer bestimmten Weltanschauung (was den verworfenen Deutungsrichtungen entspräche), sondern als Kritik an der „Inhumanität aller gelebten relativen Werte“ (S.30). Ein Schelm, wer Arges dabei denkt.
[21] Wie die anderen Interpreten fasst Emrich das Gesamtwerk Kafkas ins Auge; Kafka hat in allen Dichtungen dasselbe zu sagen versucht (hier wird die Intention erfaßt, einwandfrei!, vgl. S.74). Das ist, sozusagen, das Vorurteil von dem Zusammenhang des Werkes. Wie die anderen begreift Emrich Kafkas Leben als Zeugnis für seine Dichtung und seine Dichtung als „Glauben und Lehre“ ( allerdings nicht in theologischem Sinne). Das ist, sozusagen, das Vorurteil vom Anthropologen und Zeitkritiker Kafka, der die gleiche, in seinem Leben gewonnene Erkenntnis immer wieder niederschreibt.
[22] Immerhin macht Emrich eine ganz wesentliche Entdeckung: „Allegorie und Parabel sind nur möglich vor dem Hintergrund einer fest umrissenen Philosophie, Religion oder Weltanschauung. Der Hintergrund der Kafkaschen 'Parabeln' aber ist leer“ (S.77). Für Emrich ist das eine inhaltliche Beobachtung. Für mich ist es eine auch formale, die zu der Frage führen müsste: Warum haben eigentlich die Interpreten Kafkas Texte als Allegorien oder zumindest als Metaphern gelesen, wenn die Texte selbst keine Deutung nahelegen? Was in den Texten läßt eine zweite (dritte, vierte) Ebene vermuten, auf die sie referieren? (Emrichs Einzelinterpretationen sind dann keineswegs frei von Weltanschauung, es finden sich theologische und existenzialphilosophische Prämissen bzw. Begrifflichkeiten. Z.B. heißt es von der Schuld Josef K.'s, er habe sich „an das Man verloren“. Kafkas Texte erinnern Emrich „bis ins Detail an die moderne Fundamentalontologie Martin Heideggers“ (S.58). Es läge daher nahe, Kafka als Heideggervorläufer zu lesen (ebd.). Aha?) Schluss
[24] Die betrachteten Studien sind, in schwindendem Maße zum Glück, von mangelhafter methodischer Reflexion (bzw. von mangelhafter Methode). Inhaltliche Prämissen werden nicht benannt und nicht reflektiert. Biographie und Interpretation des Werkes sind kaum sauber getrennt. Offenbar gibt es nach dem zweiten Weltkrieg ein Bedürfnis, Kafka normativ zu lesen, als Vertreter einer möglichen Weltanschauung. –
[25] Überraschend ist für mich der jeweilige Verweis auf die literarische Tradition. Beißner verweist auf eine traditionelle Romantheorie, Reiß auf Romantik und Naturalismus, Emrich entwickelt den Begriff des „Allgemeinen“ aus dem der Klassik (man denke an Emrichs Buch über Goethes Symbolbegriff). Kafka nimmt zwar eine Sonderstellung ein, aber die ist so besonders auch wieder nicht: Man ist in der Lage, sie zu verstehen. Die Begriffe sind verfügbar, auf die er gebracht werden kann.
[26] Leitender Gedanke bei der Bewertung der Kafkaschen Kunst ist, auch dies überraschend, ihre „Wahrheit“. Emrich befindet: „Diese [Kafkas] Einsamkeit ist vielmehr die Bedingung der Möglichkeit dafür gewesen, dass Kafka – vielleicht als einziger moderner Dichter – kompromisslos den Gedankenkreis seiner Zeit durchbrach, zur Gestaltung eines universellen, wahren Allgemeinen vordrang und damit die Höhe der klassischen Dichtung erreichte“ (Emrich S.22).
1 Diese Deutungen sind nichts Neues. Brod hatte schon der Erstausgabe des Schloss-Romans 1926 im Nachwort eine religiöse Deutung beigegeben; Egon Vietta meinte 1930 in der Neuen Schweizer Rundschau zum Proceß-Roman: „Hier wird die Grundstimmung Kafkas, die bemerkenswerterweise mit sozialer Gedrücktheit, dem Geschick Hiobs verwechselt worden ist, mehr als deutlich: es ist Weltangst. 'Sie weiß nicht, was es ist, davor sie sich ängstet', wird in den grundlegenden Untersuchungen zu 'dieser ausgezeichneten Befindlichkeit des Daseins' von Martin Heidegger ausgeführt.“ – Zitiert nach: Franz Kafka : Kritik und Rezeption 1924-1938 / hg. von Jürgen Born u.a.. - Frankfurt, 1983, S.256.
2 Ein Hinweis darauf ist die Zahl der angenommenen germanistischen Dissertationen, die in der Nachkriegszeit Kafka zum Thema haben. Das Literaturverzeichnis des Buches von Wilhelm Emrich verzeichnet immerhin neun Dissertationen zwischen 1949 und 1957, die Kafka im Titel führen – und das sind nur die, die Emrich gelesen hat.
3 Glaubwürdig ist es für Beißner offenbar auch nicht, dass ein Mensch sich in einen Käfer verwandelt sieht; er interpretiert darum „Die Verwandlung“ als Darstellung einer „traumhaft verzerrte[n] Einsamkeit des erkrankten Helden“ (S.36) und zeigt als Beleg den Umschlag der Erstausgabe von 1916, auf dem „eine Zeichnung […] vermutlich nicht ohne Zustimmung des Dichters, sehr wahrscheinlich sogar unter seiner Mitwirkung oder nach seinem Wunsch gestaltet ist“ (S.37). Die Zeichung zeigt einen Mann im Schlafrock, keinen Käfer: „der Mann kann nur Gregor Samsa selber sein“ (S.37).
4 Immerhin ist Reiß der einzige, bei dem die Nazizeit tatsächlich genannt wird: nämlich mit der biographischen Feststellung, Kafkas Schwestern seien in den Gaskammern von Auschwitz umgekommen (S.13, d.i. die erste Seite des Textes). An dieser Stelle sei noch auf Reiß' besondere Bedeutung für die Kafka-Forschung verwiesen; ihm verdanken wir den Hinweis auf die Entstehung des „Urteils“: „Die Arbeit entstand während einer nächtlichen Bahnfahrt in ekstatischer Umgebung“ (S. 42). Im Tagebuch Kafkas heißt es in der Eintragung vom 23.9.1912: „Diese Geschichte 'Das Urteil' habe ich in der Nacht vom 22. bis 23. von zehn Uhr abends bis sechs Uhr früh in einem Zug geschrieben.“ In einem Zug? „Die vom Sitzen steif gewordenen Beine konnte ich kaum unter dem Schreibtisch hervorziehen.“ In einem Zug?? „Wie das Dienstmädchen zum ersten Mal durch das Vorzimmer ging, schrieb ich den letzten Satz nieder.“ - Reiß ist nicht der gründlichsten Leser Einer.
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