Es gibt vier Dinge, die einem das Romanlesen gründlich verleiden können: Politik, Sex, Literatur und die Stimme des Autors. Ein Roman, der ohne diese vier Dinge auskommt, wird Krimi genannt und stellt einen Höhepunkt der abendländischen Literaturgeschichte dar.
Die Kunst des Romans, Christa Reinig
»Was ist schön?« ist eine jener Fragen, die zugleich sehr allgemein und sehr persönlich sind. Denn gerade in ihrer Allgemeinheit verlangt sie eine Antwort, die der je persönlichen Erfahrung angemessen ist, und umgekehrt soll die Erfahrung von Schönheit Fundament sein können für Verallgemeinerung. Was ist schön? Ich bin versucht, mit der Aufzählung von Einzelnem anzufangen: Johann Sebastian Bachs »Kunst der Fuge«, die archaische Sängerskultpur aus Keros, ein Roman von Richard Powers. Die Innenstadt Wiens, ein paar Tage im Herbst, ein erfülltes Gespräch, die Empfindung des warmen Pelzes einer in der Sonne liegenden Katze.
Habe ich Grund zu der Annahme, daß alles, was ich für schön halte, etwas gemeinsam hat, nämlich das ›Schöne‹? Und wenn dem so wäre: Müßte dann dieses Schöne-an-sich dasselbe sein, das Sie mir nennen, wenn ich Sie frage?
Vielleicht ist die Frage zu direkt gestellt. Ich will im folgenden ein paar Überlegungen sowohl zu der Frage wie zu aus meiner Sicht einschränkenden Bedingungen der Antwort darlegen. Die Überlegungen stehen im Spannungsfeld von Einzelnem und Allgemeinem — auf beides sollen sie bezogen sein.
Es ist eine philosophische Tradition, anstehende Fragen zu analysieren, sie besser zu verstehen als der Fragesteller selbst, sie durch andere zu ersetzen, die klar formuliert sind, und dann die neu und selbst gestellten Fragen zu beantworten. Das ist ein legitimes Verfahren, wenn die Bezüge zwischen Ausgangsfrage und der schließlich beantworteten offensichtlich sind. Ich möchte eine ähnliche Strategie verfolgen, da mir scheint, daß der unbedachte Versuch einer Antwort sich mit zu vielem einverstanden erklärt, was in der Frage unausgesprochen enthalten ist.
Die Frage »Was ist schön?« verwendet »schön« als Prädikat. Eigentlich fragt sie: »Welche ›Gegenstände‹ fallen unter den Begriff ›schön‹?« (Ich gebrauche ›Gegenstände‹ ganz unspezifisch: damit sind auch Prozesse, Ereignisse, Personen usw. gemeint. Die Einschränkung ist lediglich grammatisch: ›Gegenstand‹ ist, was Subjekt eines Satzes sein bzw. prädiziert werden kann.) Damit ist keine Existenzvoraussetzung gemacht, denn es läßt sich antworten: »Keine.« Trotzdem ist damit behauptet, daß sich »schön« als einstelliges Prädikat auffassen läßt, das entweder zu analysieren wäre in der Zusammenfassung aller ›Gegenstände‹, die schön sind — was problematisch ist, da wir über den Begriff noch gar nicht verfügen. Die Analyse wäre dann Ausdruck des Glaubens, »schön« sei eine originale Qualität von ›Gegenständen‹ und ihre Wahrnehmung vielleicht so intersubjektiv wie Farbwahrnehmung. Es gibt gute Gründe anzunehmen, daß dem nicht so ist.
Oder wir geben eine Liste von Merkmalen, die »Schönheit« impliziert, zusätzlich mit der Information, die Liste sei vollständig. Das scheint ein mehrversprechender Weg zu sein. Nichtsdestotrotz scheint er behaftet mit den üblichen Vereinfachungen philosophischer Semantik: Ließe »schön« sich als eine Liste von Merkmalen wiedergeben, also in jedem Kontext durch sie ersetzen, dann wäre es nicht nur ein überflüssiges Prädikat, sondern die Suche nach der Antwort könnte ebenfalls darin bestehen, eine Umfrage zu machen, welchen ›Gegenständen‹ das Prädikat »schön« zukommt, und ihre Gemeinsamkeiten zu suchen.
»Schön« ist jedoch ein Wort der natürlichen Sprache. Wenn ich es ›ernsthaft‹ verwende, dann, bin ich mir sicher, meine ich damit etwas anderes, wenn ich es auf die »Kunst der Fuge« anwende, als wenn ich so Powers’ Prosa beurteile. Trotzdem benutze ich dasselbe Wort.
Tue ich das tatsächlich? Oder sind es bloß Homonyme: gleichlautende, gleichgeschriebene Worte, mit gänzlich verschiedenem Sinn? Wie meist in der Semantik ist es mit einer »Liste von Merkmalen« nicht getan. »Schön« ist vielmehr zu beschreiben durch ein kompliziertes Netz von semantischen Rollen und Kontextoperatoren; es ist ein Netz aus vom sprachlichen und situativen Kontext bedingten Bedeutungen und Bedeutungsänderungen. »Schönheit« ist ein so komplexes Prädikat, daß ich nur Bedingungen und Implikationen seiner Verwendung beschreiben kann. Es geht mir daher darum, die Grenzen des Begriffs zu umreißen. Wenn ich wiederholt, jedoch von verschiedenen Gedankenwegen, an dieselbe Grenze stoße, so liegt das in der Natur des Gegenstandes.
Meine Anmerkungen zum Begriff »Schönheit« gehen von meinem Gebrauch seiner aus. Indem ich dieses Verfahren für berechtigt halte, behaupte ich bereits zwei wesentliche Thesen:
1. These. »Schönheit« läßt sich für den Einzelnen nur mit Rekurs auf seine Erfahrung verstehen. Der Gebrauch des Begriffs ist daher individuell zu rechtfertigen.
2. These. Die Repräsentation von »Schönheit« im persönlichen ›Lexikon‹ muß Ähnlichkeiten oder Gemeinsamkeiten haben mit der von »Schönheit« in den persönlichen ›Lexika‹ anderer Sprecher.
Diese Gemeinsamkeit — die sich niederschlägt im verständlichen situativ angemessenen Gebrauch des Wortes — mag über die ähnlicher Komplexität der semantischen Netze hinausgehen und z. B. in der Besetzung mancher Stellen in diesen Netzen durch dieselben oder ähnliche Kontextoperatoren bestehen. Solche Ähnlichkeit wird sich kulturell erklären lassen. (Vielleicht ist das Konzept „Schönheit“, nach dem hier gefragt ist, nur in der abendländischen Kultur vorhanden?) In diesem Sinne ist der Begriff „Schönheit“ überindividuell bzw. intersubjektiv.
Die Worte „schön“ und „Schönheit“ sind als sprachliche Zeichen anderen Zeichen darin ähnlich, daß sie metaphorisch, ironisch oder uneigentlich gebraucht werden können. Der uneigentliche Gebrauch setzt bereits ein Verständnis des eigentlichen voraus: Was bedeutet „schön“ z. B. in dem Ausdruck „schön doof“? - Erhellend sind solche Beispiele für den 'ernsthaften' Gebrauch von „schön“ jedoch nicht; im Abgeleiteten muß das, von dem abgeleitet wurde, nicht mehr erahnbar sein.
3. These. 'Ernsthaft' ist der Gebrauch von „schön“ nur bei der Beschreibung oder Bewertung von potentiell sinnlich Erfahrbarem (d.h. vom „Ästhetischen“ im ursprünglichen Sinne).
Was das heißt, sei an einem Beispiel verdeutlicht. Wir können ja z. B. von „schönen“ Gefühlen oder Empfindungen oder „schönen“ Erinnerungen sprechen. Mit „das ist ein schönes Gefühl“ kann eines gemeint sein, das körperliches Wohlbefinden hervorruft. Dann würde ich es vielleicht genauer „angenehm“ nennen. Oder es ruft eine körperliche Spannung hervor. Dann würde ich es vielleicht als „lustvoll“ beschreiben. Das Gegenteil „schöner“ Empfindungen, z. B. Hunger oder Wut, würde ich eher „unangenehm“ als „häßlich“ nennen. Der Begriff „schön“ hat eine unspezifisch wertende Komponente, ähnlich wie „gut“, so daß er sich, emotivistisch interpretiert, als allgemeiner Ausdruck von Wertschätzung und Zustimmung verwenden läßt. Unspezifisch wertend ist „schön“ aber uneigentlich gebraucht: Eine „schöne“ Erinnerung ist entweder eine Erinnerung an etwas Schönes – dann wäre dieses eigentlich „schön“ beschrieben – und als solche angenehm (oder vielleicht schmerzhaft, wenn sie mit der Gegenwart kontrastiert). Oder „schön“ meint tatsächlich die Erinnerung als solche. Es setzt dann ein Urteil auf der Grundlage der Wahrnehmung der Erinnerung voraus. In diesem Sinne läßt sich sagen, daß die Erinnerung an die letzte Niederlage des BVB schön ist: weil die Tatsache, daß es sich um eine Erinnerung handelt, impliziert, daß es keine gegenwärtige Niederlage gibt. Ein solcher Gebrauch ist uneigentlich, um mindestens eine Ecke gedacht, und unspezifisch wertend.
[18] Es ist offensichtlich, daß „schön“ ein vergleichender Begriff ist, daß er also Teil eines Maßstabs ist, der die Formen der Komparation (schöner, am schönsten) ebenso enthält wie „häßlich“ oder „nicht schön“.
4. These. „Schön“ läßt sich nur das ernsthaft nennen, was auch „nicht schön“ / „häßlich“ genannt werden könnte.
Die These ist insofern mißverständlich, als sie zu behaupten scheint, statt „Die Kunst der Fuge ist schön“ könnte ich genausogut sagen „Die Kunst der Fuge ist nicht schön“ – so als hätte ich keine guten Gründe für den ersten Satz. Es geht mir jedoch um die Angemessenheit eines Maßstabs überhaupt. Der Maßstab ist in den meisten Urteilen implizit enthalten; die nämlich sprechen nicht von Schönheit im allgemeinen, sondern von relativer Schönheit: x ist ein schönes y. Das zeigt sich beim Versuch eines Vergleichs: Ist die „Kunst der Fuge“ schöner als die „Sonette an Orpheus“? Das ist eine absurde Frage, die „Äpfel mit Birnen vergleicht“. Beide sind schön: diese sind schöne Lyrik, jene ist schöne Musik.
Wie kommt es, daß jemand, der in Bezug auf abendländische Musik der Neuzeit ein sicheres Urteil über deren Schönheit hat, dies in Bezug auf Theater oder Literatur desselben Zeitraums und Orts nicht zu haben braucht und umgekehrt? Und wenn sich die Begriffe von Schönheit nach der Vergleichbarkeit richten, wie kommt es dann, daß manche ohne zu zögern z. B. Goethe mit Franz Xaver Kroetz vergleichen, während andere meinen, ersterer wäre ein Apfel, während Kroetz mehr von einer Birne hat?
Bin ich also gezwungen, verschiedene Begriffe von Schönheit anzunehmen? Als homonymes ein- und zweistelliges Prädikat, je nach Verwendung? – Jedenfalls ist das zweistellige Prädikat spezifischer wertend. Es ist damit zugleich stärker an den situativen Kontext gebunden: Es gibt explizit Bedingungen für eine Wertung an, indem es Merkmale des Beurteilten als relevant auszeichnet und andere ausschließt. Damit aber das einstellige Prädikat „Schönheit“ nicht unspezifisch wertend wird, muß auch dieses Relevanzbedingungen für eine Wertung enthalten. (Und es ist denkbar, daß eine Teilmenge dieser Relevanzbedingungen für jede Verwendung von „schön“ zutrifft.)
5. These. Was schön ist, ist nicht langweilig.
„Langeweile“ ist ein zeitlich bestimmtes Phänomen. Es läßt sich nicht ohne Erfahrung sagen, daß etwas langweilig ist; wohl aber läßt sich auf den ersten Blick die Prognose wagen, daß etwas langweilen wird. Schönheit läßt sich auf den ersten Blick, den ersten Eindruck hin zuschreiben. Das funktioniert so wie Liebe auf den ersten Blick. Man mag daran zweifeln, wie gerechtfertigt eine Liebe auf den ersten Blick ist, die - per definitionem - den Gegenstand ihrer Liebe nicht kennt: Warum lieben Sie? Wie ist denn der oder die Geliebte? Ist es nicht vielleicht so, daß Sie nur das Lieben lieben? Wenn dem so ist, kann es sein, daß ein Kennenlernen die Liebe verstärkt – indem sie ihr einen Grund gibt – oder sie zerstört – indem sie ihr das Grundlose zeigt.
„Schönheit“ erleben wir ähnlich. Etwas mag anziehen auf den ersten Blick: „Das finde ich schön!“. Erst ein Kennenlernen erlaubt es, ein Urteil über den Gegenstand zu bilden: „Das ist schön!“ oder: „Das finde ich nicht mehr schön!“.
Könnten wir sagen: „Das ist nicht mehr schön?“ Wenn ein Urteil über Schönheit die Anwendung eines Maßstabs impliziert, dann können wir es nicht widerspruchsfrei sagen. Denn damit würden wir Zeit zu einem relevanten Merkmal von Schönheit machen: „x ist am 28.7.1975 genauso wie am 13.12.1996, mit dem einzigen Unterschied, daß es vorher schön war, dann aber nicht.“ – Wenn wir also unsere Meinung über die Schönheit von etwas ändern, während der Gegenstand gleich bleibt (wichtig ist nicht nur, daß es derselbe Gegenstand ist – Gleichheit ist keine Folge von Identität – sondern daß er außerdem sich gleich bleibt), dann ändern wir unseren Maßstab. Vorausgesetzt, wir sind uns dessen bewußt, müssen wir sagen: „x ist am 28.7.1975 schon genauso häßlich gewesen wie am 13.12.1996, ich hatte es nur noch nicht gemerkt!“
Schönheit verbraucht sich also nicht, mit anderen Worten: Sie ist 'zeitlos'. (Geschmacksurteile hingegen sind 'zeitgebunden'.) Wohl aber ändern wir unsere Maßstäbe. Warum tun wir das? Einer der Gründe dafür liegt im Schönen selbst. Es scheint dazu herauszufordern, das Rätsel seiner Schönheit (welches auch darin besteht, daß uns unsere Wertungsmaßstäbe nicht klar sind), zu ergründen, also herauszufinden, was an ihm schön ist. Mir scheint, daß das Urteil „schön“ dieses Erleben mitmeint: Schönheit ist faszinierend. Sie läd so zur 'Analyse' ein, zum Herausfinden, wie das Schöne 'gemacht' ist. Die Faszination kann durch die Analyse verstärkt werden - aber sie braucht sie nicht. Die Analyse jedoch ändert den Maßstab, da sie die Perspektive auf den Gegenstand ändert. Sie erweitert die Blickmöglichkeit auf ihren Gegenstand. Darin läßt sich die gern vertretene These aufheben, die Analyse erst ermögliche den wahren Genuß von Schönheit.
Indem ich oben unterscheide zwischen Urteilen der Form „x ist schön“ und solchen wie „x ist ein schönes y“, deute ich bereits an, daß ich die meisten Urteile über Schönheit für relativ halte. Das undifferenzierte „x ist schön“ scheint die Schönheit von x zu nichts in Beziehung zu setzen, außer zum Wahrnehmenden bzw. Urteilenden. Gefragt nach einer Begründung oder Rechtfertigung – „Wieso ist x schön?“ „Was ist daran schön?“ – könnte geantwortet werden mit „Ich finde x schön“. Darüber läßt sich nicht streiten; zu sagen „Nein, du findest es nicht schön!“ ist unsinnig. Es läßt sich aber sehr wohl feststellen: „Du findest x schön, obwohl es gar nicht schön ist.“ Damit ist weniger behauptet, daß es einen objektiven Wert „schön“ gibt, der dem 'Gegenstand' anhaftet oder nicht, als vielmehr, daß es nach Meinung des Sprechers Gründe für oder gegen das Urteil „x ist schön“ gibt. Diese Gründe liegen – das ist das Wesentliche – nach Auffassung des Sprechers im 'Gegenstand'. Anders ausgedrückt: Ebenso wie „schön“ undifferenziert wertend gebraucht werden kann, kann es deskriptiv (beschreibend) gebraucht werden. Wer sagt „Ich finde x nicht bloß schön, sondern es ist schön!“, der behauptet eine Qualität von x, die ebenso wahrnehmbar ist wie seine anderen Qualitäten.
Dabei gibt es zwei Möglichkeiten, das Urteil zu rechtfertigen. Vorstellbar ist, daß in einem bestimmten Bereich der Kunst, der streng reglementiert ist, die vollendete Erfüllung der Regeln in einem Kunstwerk „schön“ genannt wird. Ein historisches Beispiel dafür ist der Meistersang als reglementierte Dichtkunst. In solchem Fall ist „schön“ rein deskriptiv gebraucht, und es ist dann möglich, widerspruchsfrei zu sagen: „Ich weiß, daß x schön ist (da es die Regeln erfüllt), aber es gefällt mir nicht.“ Im alltäglichen, 'ernsthaften' Gebrauch von „schön“ hingegen scheint „das ist schön“, da es nicht rein deskriptiv gebraucht ist, die Mitteilung „es gefällt mir“ zu enthalten.
Der rein deskriptive Gebrauch ist aus offensichtlichen Gründen wenig interessant:
Was ist also die andere Möglichkeit, ein Urteil zu rechtfertigen, das „x ist schön“ behauptet, ohne sich auf die bloß persönliche Empfindung oder auf eine bekannte Regelmenge zu berufen?
Man könnte das Beurteilte in Relation setzen zu einem kategoriellen Rahmen, für den Beurteilungsstrategien feststehen. Also wäre nicht zu urteilen „x ist schön“, sondern: „Die 'Kunst der Fuge' ist eine Sammlung sehr schöner Fugen“. Damit wird Kennerschaft zur Rechtfertigung des Urteils herangezogen. Ich weiß, was eine Fuge ausmacht; ich bewundere die Originalität jeder einzelnen Fuge der Sammlung in Bezug auf das Konzept „Fuge“, über das ich verfüge. Ebenso schätze ich die „Sonette an Orpheus“ als hervorragende Sonette. - Aber das scheint zu wenig; solche Urteile sind ja nicht bloß deutlich relativierend, sondern darin verengend. Zu sagen „Die 'Sonette an Orpheus' sind schöne Sonette“ ist etwa so wie „Klimt malt schönen Jugendstil“, und von da ist es nicht weit zu der Feststellung, daß „Der Proceß“ ein besonders schöner Kafka-Roman ist. Kant meinte (in der Kritik der Urteilskraft), „daß man durch das Geschmacksurteil (über das Schöne) das Wohlgefallen an einem Gegenstande jedermann ansinne“ (§8). Das ist richtig beobachtet und führt zu der Vermutung, das Urteil „x ist schön“ sei noch in einem anderen Sinne zu rechtfertigen. Kant beschrieb auch, in welchem Sinne: Das Ästhetische nämlich beinhalte seine eigene Regel, nach der es beschaffen sei (§45 ff.). „x ist schön“ behauptet dann, x sei in Relation zu sich selbst schön, oder genauer, in Relation zu der ihm eingeschriebenen Idee. Was ist damit gemeint?
Es ist sicher voreilig, „Schönheit“ nun durch ein anderes, scheinbar bestimmteres Abstraktum erklären zu wollen, das dem Werk eingeschrieben und dessen Regel erahnbar sei, etwa „Vollkommenheit“. Das verschiebt nur die Beweislast, und zudem läßt sich „Vollkommenheit“ – wie jeder abstrakt beschreibende Begriff – dialektisch deuten, etwa so, daß für manche Werke ihre Unvollkommenheit unabdingbar sei und daher ihre Vollkommenheit ausmache (wie man das gern von „Fragmenten“ behauptet). Klar ist aber, daß eine Deutung von „Schönheit“, die sich auf eine dem beurteilten Gegenstand merklich 'inhärente' Regel beruft, nur durch das Aufzeigen einer solchen Regel zu rechtfertigen ist. Diese Regel zu entdecken verlangt ein Studium des Gegenstandes und den Verdacht, die Voraussetzung eines ihm 'inhärenten' Plans. Wir können diesen Plan oder diese Regel „Gedanken“ nennen, wie Arnold Schönberg das in seinen lesenswerten Essays (etwa: Neue Musik, veraltete Musik, Stil und Gedanke)und für die Musik tut, und behaupten, dieser Gedanke könne 'semantische' und 'syntaktische' Eigenschaften haben, oder anders ausgedrückt: einen 'Sinn' und eine 'Struktur'. Sinn und Struktur lassen sich nicht voneinander getrennt betrachten; sie sind verschiedene Beschreibungen des einen 'Gegenstandes', des einen „Gedankens“. Als Beschreibungen sind sie abhängig von der Fähigkeit des Beschreibenden sowohl zu beschreiben, als auch das für eine Beschreibung relevante wahrzunehmen. Sinnhaftes zu erkennen und zu verstehen, sind dann die Voraussetzungen für ein begründbares Urteil über Schönheit; mit 'Struktur' verhält es sich ähnlich.
6. These: Schönheit hat mit 'Sinn' zu tun.
Mir scheinen die Begriffe 'Syntax' und 'Semantik' zur Beschreibung eines 'Gegenstandes' sehr geeignet, da sie daran erinnern, daß wie das Verstehen von Sprache die Annäherung an etwas Schönes und seinen 'Sinn' vom Wissen um mögliche Gestaltungsabsichten, Bedeutungen etc. abhängig ist. Wissen ist individuell; und so erklärt sich — aus dem persönlichen, dem situativen, dem kulturellen Kontext — sowohl die Ähnlichkeit wie die Verschiedenheit ästhetischer Urteile.
Die Rede von 'Syntax' und 'Semantik' mag nahelegen, der Sinn und die Struktur eines Gegenstandes seien sprachlich zu fassen oder einer Sprache ähnlich. Das meine ich nicht, sondern halte eine solche Auffassung für eine wenig hilfreiche Verengung, die 'Sinn' auf Sagbares reduziert. Es gibt ganz verschiedene Typen von 'Sinn', manche davon schätze ich höher als andere. Ist etwa der 'Sinn' eines Werkes „Unterhaltung“, dann finde ich das „trivial“ — was mich nicht daran hindert, mich unterhalten zu lassen. Aber „schön“ würde ich es nicht nennen. (Werke — Gemachtes — sind in den Kategorien von 'Syntax' und 'Semantik' einfacher zu beurteilen als das „Naturschöne“, aber tatsächlich lassen sich diese Kategorien auch auf letzteres anwenden. Vielleicht liegt dem Urteil „schön“ generell die Vorstellung von „Gemachtheit“ zugrunde (7. These?). Eine „schöne“ Landschaft kann vorgestellt sein — wie ein schöner Mensch — als vom „Schöpfer“ gemacht. Plausibler noch scheint mir aber die Überlegung, daß der Betrachtende in der Entscheidung, was er mit hineinnimmt in die Beurteilung der schönen Landschaft, indem er also einen Bildausschnitt wählt, die Landschaft „macht“.)
'Sinn' kommt schließlich durch Interpretation zustande. Die mag konventionell sein, wenn das Betrachtete konventionell ist. Sie ist trotzdem jederzeit abhängig sowohl vom Interesse wie von der Fähigkeit des Interpretierenden. Und sie ist zwar gültig, aber nie endgültig. Das Urteil „x ist schön“ kann, wie sein Gegenteil „x ist nicht schön“, revidiert werden.
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