Zur Frage der Objektivierung ethischer Urteile
Erstveröffentlicht in: Kriwit 2 (1995), S. 16-18.
Niemals ist die Vernunft imstande gewesen, Gut und Böse zu definieren oder auch nur annähernd das Böse vom Guten abzugrenzen; im Gegenteil, sie hat sie stets schändlich und jämmerlich verwechselt; die Wissenschaft indes hat nur grobe Lösungen dieser Frage angegeben.
F.M. Dostojewskij, Die Dämonen
„Ethische Sätze“ sind moralische Urteile oder ethische Urteile erster Ordnung. Damit ist gemeint, daß ethische Sätze Beurteilungen oder Bewertungen von Sachverhalten sind. Darunter fallen Sätze wie „Es ist gut/richtig,1) jenes zu tun“, „Herbert ist ein tapferer Kerl“ usw. Ich unterscheide hier, wie in der analytischen Philosophie üblich, „Ethik erster Ordnung“ (oder „Moral“), deren Gegenstand Bewertungen von Tatsachen ist, von „Ethik zweiter Ordnung“ (oder „Metaethik“), deren Gegenstand der Status moralischer Äußerungen ist. Die Frage, ob ethische Sätze der Wahrheitsfrage unterliegen, ist eine metaethische Frage. Sie scheint mir gleichbedeutend mit der Frage, ob ethische Urteile wahrheitsfähig sind. Das ist eine ziemlich optimistisch gestellte Frage, als ließe sich ein „ja“ oder „nein“ eindeutig begründen.
Was bedeutet es für Moral, wenn ihre Urteile „wahrheitsfähig“ sind? Der klassische Fall eines moralischen Urteils ist derjenige, daß A eine Handlung vollzieht, die B beobachtet, und anschließend stellt B fest: „Es war falsch (schlecht), daß du X getan hast.“ A wird dann, falls er nicht selbst davon überzeugt ist, daß X falsch war, von B die Gründe dieser Beurteilung zu erfahren verlangen. Das heißt: Er wird davon ausgehen, daß B Gründe für sein Urteil hat.
Nehmen wir an, daß moralische Urteile wahrheitsfähig sind, das heißt, daß sich die Bedingungen angeben lassen, unter denen ein solches Urteil wahr oder falsch wird. Dann reicht es als Begründung für B aus, daß er die Wahrheitsbedingungen des Satzes angibt.
„X zu tun war schlecht“ ist wahr, wenn das-und-das der Fall war.
Das-und-das war der Fall.
Also ist „X zu tun war schlecht“ wahr.
Wenn moralische Urteile nicht wahrheitsfähig sind, dann lassen sich keine Bedingungen angeben, unter denen ein solcher Satz wahr oder falsch wird („Wahrheitsbedingungen“). Das heißt: „X zu tun, war schlecht“ wäre ein unsinniger Satz,2) es sei denn, man deutete ihn als bar jeden beschreibenden Gehalts - was manche Philosophen versucht haben. Ob der Satz nun unsinnig oder bar jeden beschreibenden Gehalts ist, ist für die Folgen dieser Interpretation ziemlich gleichgültig: Man könnte nicht über moralische Werturteile streiten.
Diese Überlegungen haben manche dazu veranlaßt, die Wahrheitsfähigkeit moralischer Urteile zu fordern. Andere haben sich gewundert, daß unsere Sprache keinen Hinweis auf eine solche Deutung gibt: Wir sagen doch, seit Jahrtausenden, Sätze wie „X zu tun, war schlecht“; es läßt sich wohl kaum plausibel machen, daß wir seit Jahrtausenden unsinniges Zeug reden. (Die Gegenposition, daß die Objektivität unserer Moralsprache auf einem Irrtum über die Welt beruhe, hat wenig für sich.)
Die Überlegungen über die „Wahrheitsfrage“ bei ethischen Sätzen sind ebenso naiv wie die Frage. Sie tun so, als ließe sich Metaethik unabhängig von Ethik erster Ordnung betreiben.
Nehmen wir an, ich sei ein einfacher Utilitarist und daher der Meinung, daß in jeder Situation diejenige Handlung die richtige ist, die den Gesamtnutzen aller Lebewesen am meisten erhöht. (Wenn zwei oder mehr Handlungen dies gleichermaßen tun, darf ich mir eine aussuchen.) Ich habe dann (hoffentlich) eine Anweisung dafür, wie der zu erwartende Gesamtnutzen festzustellen ist und was dazu zählen soll - im Rahmen meiner Theorie läßt sich daher über die Richtigkeit einer Handlung entscheiden, und zwar eindeutig. Natürlich werden dem Urteil nur die zustimmen, die auch den Utilitarismus als gültige Theorie anerkennen. Ich gehöre nicht dazu. Vielleicht würde ich fragen: Ist denn der Utilitarismus wahr?
Sollten wir über die Begründbarkeit ethischer Urteile oder über die ethischer Theorien debattieren? Die Wahrheitsfähigkeit von ethischen Urteilen zu diskutieren, lenkt die Aufmerksamkeit bereits in eine bestimmte Richtung, nämlich in die der Suche nach moralischen Tatsachen.
Gibt es einen prinzipiellen Unterschied zwischen moralischen oder allgemeiner: Werturteilen und anderen? Wie steht es mit der Wahrheit von nichtethischen Urteilen? Auf den ersten Blick scheint es eine Korrespondenz zwischen Tatsachen in der Welt und Aussagen über Tatsachen in der Welt zu geben. Ein Satz ist dann wahrheitsfähig, wenn sich die Bedingungen angeben lassen, unter denen er wahr oder falsch wird (s.o.). „Draußen regnet es“ ist wahr oder falsch, weil es draußen regnet oder nicht. Die Äußerungssituation gibt die Wahrheitsbedingungen an: Es regnet jetzt, draußen vor dem Fenster, durch das ich hinaussehe. Es wäre ziemlich albern, über die Wahrheit eines solchen Satzes zu streiten, da zumindest jedem, der meine Sprache versteht, mit dem Verständnis des Satzes auch die Möglichkeiten zu seiner Überprüfung gegeben sind. Eine Tatsache in der Welt begründet die Bewertung (wahr/falsch) eines Satzes über diese Tatsache.
Bekanntermaßen ist Kommunikation nicht frei von Mißverständnissen. Die unterschiedliche Zuschreibung von Wahrheitswerten kann auf Mißverständnissen beruhen („Jeden Morgen geht die Sonne auf.“ - „Aber die Sonne bewegt sich doch gar nicht.“),3) auf vagen Begriffen („Heute sind viele Leute unterwegs.“ - „Findest du?“), auf einer unterschiedlichen Wahrnehmung der Welt („Dein blaues Kleid steht dir.“ - „Es ist grün.“). Die Beispiele sind sehr einfach und legen eine bestimmte Strategie zur Beseitigung dieser Mißverständnisse nahe, eine der Lieblingsstrategien der Philosophie: Klären wir die Bedeutungen der Begriffe, und wir werden uns verstehen. Z.B. könnte „viele“ in diesem oder jenem Kontext eine exakte Größe sein, wenn nicht im gewöhnlichen Sprachgebrauch, dann gemäß einer Definition, nachdem sich endlich Philosophen der Sache angenommen haben.
Es ist bezweifelbar, daß Definitionen eine Lösung unseres Problems sein können, aber es ist nicht kategorisch auszuschließen. 4)
Der Unterschied zwischen ethischen und nichtethischen Urteilen scheint darin zu liegen, daß ethische Urteile bewerten, während nichtethische Urteile aussagen. Diese Ansicht hat dazu geführt, bei Worten eine evaluative (wertende)5) und eine deskriptive (beschreibende) Bedeutungskomponente zu unterscheiden. Die meistdiskutierten Begriffe wie „gut“ oder „richtig“, sagte man, hätten, wenn sie im moralischen Sinn verwendet würden, keine beschreibende Bedeutung. Da sie keine beschreibende Bedeutung haben, gibt es nichts in der Welt, was über die Richtigkeit ihrer Anwendung entscheiden hilft. Lediglich eine sprachlogische Eigenschaft dieser wertenden Begriffe ist zu berücksichtigen: Sie sind universell. Damit ist gemeint: Eine Handlung X, die in allen relevanten Merkmalen der Handlung Y gleich ist, muß dieser gleich bewertet werden. Es wäre unlogisch zu sagen: „Handlung X ist in allen Punkten Handlung Y gleich, außer, daß X gut ist und Y schlecht.“ Bewertungen sind nicht mehr willkürlich, wenn man erst einmal damit angefangen hat. Bleibt die Frage, was jeweils „relevant“ ist - und darauf geben uns die Wörter keinen Hinweis.
Es gibt viele Begriffe, die deutlich beschreibend sind, aber eine Wertung transportieren. „Keuschheit“ oder „Mut“ finden sich als Beispiel in der Literatur; naheliegender sind etwa „Gleichberechtigung“, „Diskriminierung“ oder „Mord“. Mord ist immer eine unmoralische Handlung; es widerspricht der Bedeutung des Wortes „Mord“, zu sagen: „A hat B ermordet, aber er hat nicht unmoralisch gehandelt.“
Bernard Williams nennt solche Begriffe „dicke ethische Konzepte“ [thick ethical concepts] und zeigt, daß sie eine Art ethischen Wissens darstellen. Es gibt Sachverhalte in der Welt, auf die sich diese Begriffe anwenden lassen; ethisches Wissen besteht darin, diese Begriffe den Regeln der Sprachgemeinschaft 6) entsprechend anzuwenden. Was so geschieht, ist ähnlich der Anwendung eines Begriffs gemäß einer Theorie und der in ihr verfügbaren definierten Bedeutung - der Begriff ist innerhalb der Theorie anwendbar. „Dicke ethische Konzepte“ sind innerhalb einer Sprachgemeinschaft verfügbar, und für ihre angemessene Anwendung gibt es - unausgesprochene - Bedingungen.
Die Beobachtung, daß dicke ethische Konzepte wahrheitsgemäß angewandt werden können, die Regeln zu ihrer Anwendung aber unausgesprochen sind, sollte uns nicht verführen, einen intuitiven Zugang zur moralischen Wahrheit anzunehmen. Was hier wirkt, sind sprachliche Intuitionen, nicht moralische; und sprachliche Intuitionen sind - selbstverständlich - lokal beschränkt (nämlich auf die Sprachgemeinschaft).
Das Ergebnis der Überlegungen ist unbefriedigend, vom Standpunkt eines Moralisten aus betrachtet, der gerne „objektiv“ wahre ethische Urteile fällen würde, statt theorieabhängige oder lediglich lokal gültige. Denn „objektive“ Wahrheit müßte nicht weiter begründet werden, sie wäre evident. Theorieabhängige Wahrheit zwingt uns, nach der Wahrheit oder Begründbarkeit der Theorie zu fragen, „lokale“ Wahrheit führt sofort zu Konflikten, wenn ethische Urteile über die Sprachgemeinschaft hinaus angewandt werden.
Ist objektive ethische Wahrheit möglich? Wenn Wahrheit eine Eigenschaft der Korrespondenz von Urteilen über die Welt mit der Welt ist, dann ist die Frage nach objektiver Wahrheit ein erkenntnistheoretisches Problem. Es liegt für mich auf der Hand, daß für die Ethik gilt, was in Ästhetik wie Wissenschaftstheorie ein alter Hut ist: daß Beobachtungen theorieabhängig und Bewertungen erfahrungsabhängig sind. „Es gibt kein unschuldiges Auge“ (Nelson Goodman).
Ist das Projekt der Ethik damit gescheitert? Das wäre voreilig geurteilt. Es ist nur deutlich geworden, daß Ethik zu betreiben nicht meint, herauszufinden, was objektiv richtig ist und wie man das erkennt.
Die Antwort auf die Frage nach dem Richtigen und dem Guten ist nicht unabhängig von der Welt. Ohne die Fessel der Objektivität können wir die Verbindung von ethischen Urteilen mit der Welt erproben, mit dem Wissen um die Abhängigkeit unserer moralischen Urteile von unserer Erfahrung und Erziehung (und damit: von unserer Persönlichkeit – das scheint mir wünschenswert).7) Eine befriedigende Begründung von Moral kann wohl nur mit der Angabe eines Zwecks für sie geleistet werden. Das ist keine so erschreckende Vorstellung, wie Kant glaubte; es ist im Gegenteil die notwendige Egänzung für eine ansonsten haltlose praktische Vernunft.
Es werden sich, denke ich, bei aller Verschiedenheit lokaler Traditionen, bestimmte Werte als unabdingbar für eine ethische Theorie herausstellen, die einen überzeugendem Zweck dient. Die Formel für den Zweck könnte „gelingendes Leben“ sein, und sie impliziert (u.a.), daß die ethische Theorie dem Gelingen der Leben Aller dienen sollte. So weitet sich der Horizont: Philosophie allein wird die Frage nach einem gelingenden Leben nicht beantworten können.
Der Text ist veröffentlicht unter einer CC-BY-NC-SA 4.0 Lizenz.