Ursprünglich veröffentlicht: Philobar, 25.3.2009
Roland Reuß muss das letzte Wort haben. Drum hat er auf die Entgegnung von Gudrun Gersmann in der FAZ flugs einen Widerspruch veröffentlicht, auf den eigenen Webseiten. Die „Kurze Antwort“ strotzt vor Selbstgerechtigkeit. Dabei entblödet sich Reuß nicht, Gersmann selbst Formulierungen („keine Gegenpolemik“) übelzunehmen, die sich deutlich ihrem Bemühen verdanken, die Debatte kühl zu halten, und beölt sich in seiner kulturpessimistischen Selbstversicherung, Gersmann habe bestimmt schon „mit PowerPoint“ gearbeitet. Bleiben Sie doch mal bei der Sache!
Reuß beschwert sich, dass Gersmann sich nicht die Mühe gemacht habe, seine zwei zentralen Punkte zu widerlegen. Diese seien: Die Open Access-Initiativen von Politik und Wissenschaftsorganisationen bedeuteten
a) der Versuch einer Abschaffung des Urheberrechts,
b) der Ansatz zur Zerschlagung einer freien deutschen Verlagsszene.
Bei a) geht es um die Sorge, deutsche Hochschulen würden ihren Mitarbeitern vorschreiben wollen, wie sie publizieren sollen, bei b) um die These, dass, wenn alles Open Access auf Hochschulschriftenservern publiziert würde, Verlage nix mehr zum Veröffentlichen hätten.
Bei a) muss Reuß auf die Uni Zürich verweisen, also die Abschaffung des deutschen Urheberrechts mit einer Schweizer Uni belegen. Er wirft Gersmann vor, nichts zur Züricher „Erpressung“ der Wissenschaftler zu sagen. Er selbst bringt allerdings auch keine Züricher Stimme, sondern nur seinen eigenen Eindruck. Er nennt das „Erpressung“, aber wie nennen das die andern? Kein Beleg aus Zürich von „erpresst“ klingenden Stimmen?
Lese ich mir die Züricher Webseiten durch, dann habe ich den Eindruck, dass dort gar nicht das gefordert wird, was Reuß behauptet. Dort steht, Wissenschaftler mögen Ihre Publikationen im Züricher Repository ZORA unterbringen, sofern „dem keine rechtlichen Hindernisse entgegenstehen“. Erpressung wird wohl darum für Reuß daraus, weil im offiziellen Forschungsbericht der Uni nur die Arbeiten genannt werden sollen, die auch in ZORA nachgewiesen sind. Unabhängig von der Terminologie ist es ein schwaches Bild für die Argumentation, wenn Reuß keine Kontra-Stimmen der Betroffenen beibringen kann.
Wäre eine solche Vorschrift einer Hochschule in Deutschland eine „Rechtsbeugung“ und ein Verstoß gegen das Grundgesetz?
Ehrlich: Keine Ahnung. Aber die Frage scheint mir auch eher zu sein, ob das eine wünschenswerte Praxis wäre oder nicht, und was sich dafür oder dagegen anführen ließe. Das Hauptargument für die moralische Vertretbarkeit solcher Praxis ist: Der Staat gibt das Geld für die Forschung, der Staat sollte entsprechend auch mitbestimmen dürfen, wie veröffentlicht wird. Diesem Argument widmet Reuß sich in seiner „Coda 4“. Und er hat zwei Gegenargumente.
1. Lessing hat sich bereits mit dem Argument auseinandergesetzt.
Ja, ernsthaft: das ist für Reuß ein Gegenargument! Er sagt weder, was Lessing geschrieben hat, noch inwiefern das heute anwendbar könnte. Denn da Lessing in anderen Zeiten lebte, kann man ja nicht voraussetzen, dass sich das einfach übertragen lässt, was auch immer er gedacht haben mag.
2. Reuß und seine Forscherfreunde arbeiten 12 bis 14 Stunden am Tag. Der 8-Stunden-Tag der gewöhnlichen Angestellten und Arbeiter ist bereits mit Lehre angefüllt; also: „forschen kann man buchstäblich nur in der ‘Freizeit’“; also darf der Staat da nix reinreden.
Ist das ein überzeugendes Argument? Reuß schreibt, „niemand von den ernsthaft an seiner Uni Lehrenden und Forschenden“ würde weniger arbeiten, das bedeutet: wer nicht auf diese Arbeitslast kommt, kann sich der Verachtung Reuß’ gewiss sein, weil er entweder nicht ernsthaft lehrt oder nicht ernsthaft forscht – oder gar beides.
Hhm. Nach dem deutschen Beamtenrecht steht ein Beamter mit der „ganzen Person“ im Dienst seines Staates. Sowas wie Freizeit haben die eigentlich nicht. Aber lassen wir das. Es scheint mir ohnehin ein bisschen dünne, einfach eine zeitliche Rechnung aufzumachen und dabei die Unterstützung, die er in verschiedener Form durch den Staat erfährt, mit der Lehre abgegolten sein zu lassen. Nutzt er in seiner „Freizeit“ die vom Staat zur Verfügung gestellten Ressourcen (Büro, Sekretariat, Bibliothek, Forschungsgelder etc.) nicht? Notabene: Reuß als Geisteswissenschaftler ist weniger auf die Forschungsinfrastruktur angewiesen, die ihm die Uni zur Verfügung stellt, als beispielsweise ein Mediziner oder ein Werkstoffwissenschaftler. Aber er gibt vor, für alle zu sprechen – und für ressourcenintensive Fächer taugt das Argument ohnehin nicht.
Taugt das Argument sonst? Mir scheint es ein Nebenschauplatz zu sein, so als würde Reuß gerade nicht bestreiten wollen, dass der Staat grundsätzlich das Recht habe, ihm in seine Veröffentlichungen reinzureden. Genau das will er aber bestreiten; er will eben nicht sagen: ‘würde ich meine Forschung in meinem 8-Stunden-Tag schaffen, für die ich bezahlt werde, hätte die Uni das Recht zu bestimmen, wo ich veröffentliche.’ Man kann die Eröffnung des Nebenschauplatzes vielleicht so werten, dass Reuß spürt: an dem Argument ist was dran.
Reuß bietet – wieder muss man sagen: allen Ernstes – das folgende, logisch immerhin einwandfreie Argument gegen Open Access:
Ja, tatsächlich; der zweite Teil ist eine valide Schlussfolgerung. Der erste aber nicht, denn es stimmt natürlich nicht, dass Open Access nur dann gut ist, wenn alle dafür sind. (Dann bräuchte man ja keine Überzeugungsarbeit mehr zu leisten.) Ohnehin sollte Reuß genauer hinsehen. Die Befürworter haben nämlich zwei voneinander unabhängige Argumente.
Der erste: Open Access ist etwas Gutes, also sollten Wissenschaftler dafür sein. Dies ist unabhängig davon, ob Wissenschaftler tatsächlich dafür sind oder nicht, und kann auch unabhängig davon betrachtet werden. Und natürlich lässt sich weiter ausbuchstabieren, warum Open Access etwas Gutes ist.
Das zweite Argument ist der Blick auf die Akzeptanz. Dabei muss man sich klarmachen, dass der Hinweis auf die Akzeptanz ein Underdog-Argument ist, das nach dem Muster funktioniert: Der Mainstream ist zwar der Meinung dass …, aber diese oder jene Expertin akzeptieren die gegenteilige Meinung, also muss da was dran sein. Wie kommt es, dass Reuß ein Underdog-Argumentationsmuster bemüht, obwohl doch die OA-Gegner und -Uninteressierte bei den deutschen Wissenschaft in der Mehrheit zu sein scheinen? Die Antwort ist: Die Geldgeber (DFG, Max-Planck-Gesellschaft, Leibniz-Gesellschaft, Wissenschaftsrat etc.) sind bekennende OA-Anhänger. Darum schreibt Reuß wie jemand, der in die Ecke gedrängt wurde, während die OA-Befürworter in der Regel wie Leute schreiben, die noch in der Ecke stehen und endlich raus möchten. Kleiner Beleg für die These, dass OA-Befürworter in der Minderzahl sind: Wieviele OA-veröffentlichende Wissenschaftler in der Philosophie und in der Literaturwissenschaft haben wir denn in Deutschland?
Reuß sagt:
Begründung (ich zitiere): „Niemand, der das OA-Modell … durchdacht hat, kann mit den vorgezeichneten Konsequenzen für seine Publikationsfreiheit auch nur ansatzweise sympathisieren“. Wie verhalten sich Begründung und These zueinander? Gar nicht! Reuß fordert von den andern den empirischen Nachweis, begnügt sich selbst aber mit Appellen an den common sense. Nun haben OA-Befürworter schon auf Studien verwiesen, z.B. über den Zusammenhang von OA-Veröffentlichung und Zitationshäufigkeit (der Klassiker stammt sicher von Steve Lawrence in Nature, der schon 2001 feststellte: „Free online availability substantially increases a paper's impact“), oder über OA-Veröffentlichung und Verkaufszahlen (siehe dazu die Linksammlung auf Infobib.
Ja, Reuß bestreitet das Hauptargument der OA-Befürworter. Ich zitiere: „Es ist nichts törichter als das Argument, Open Access allein verschaffe freien Zugang zum Wissen für alle. Das kann man nicht nur keinem Afrikaner erzählen, man bekommt außerdem den völlig unangemessenen Eindruck vermittelt, alle öffenlichen Bibliotheken seien geschlossene Anstalten“. Man sieht wieder mal, dass Reuß hier zwei Dinge auf einmal behauptet, die man besser auseinander hält. Das erste: Was im Internet frei veröffentlicht wird, ist nicht wirklich frei zugänglich, weil es Leute gibt, die keinen Internetzugang haben. (So verstehe ich den Hinweis auf den „Afrikaner“.) Tja, also, ich denke, es gibt mehr Leute mit Internetzugang in Afrika, als solche, die eine frei zugängliche öffentliche Bibliothek mit der einschlägigen Forschungsliteratur aufsuchen können. Wirklich, das denke ich. Ist eigentlich eine empirische Frage, aber ich habe gerade keine Zahlen zur Hand. Sie vielleicht, Herr Reuß?
Das zweite: In öffentlichen Bibliotheken ist das Wissen doch frei zugänglich. – Reuß forscht in Heidelberg, wo die UB offenbar mit einem Etat gesegnet ist, der Reuß nicht klagen lässt. Auch die Bearbeitungsgeschwindigkeit scheint dort ausgezeichnet zu sein. Aber das mag nicht allen Wissenschaftlern so gehen, und so mancher wird hin und wieder seufzen, wie schön es wäre, wenn er die Veröffentlichungen, die er braucht, sofort auf seinem Bildschirm am Schreibtisch haben könnte.
Kleine Frechheit von Reuß am Rande: Reuß unterstellt, Bibliothekare würden sich bisher nicht für die Erhöhung des Buchetats einsetzen (in seiner Coda 2). Tun sie unablässig – nur ist ihre Stimme bei den Geldgebern nicht so wichtig wie die der Wissenschaftler, die das Geld für Literatur lieber für elektronische Zeitschriften der internationalen STM-Verlage ausgegeben sehen statt für geisteswissenschaftliche Monographien.
Damit sind wir bei Reuß’ b)-These: Die Verlage werden nichts mehr zu veröffentlichen haben; OA-Förderung durch den Staat ist gleichbedeutend mit einer „Zerschlagung der deutschen Verlagsszene“.
Da hat Frau Gersmann auf eine empirische Studie verwiesen, und Reuß beschwert sich, dass die über England handelt: als wenn die Wirtschaft in Deutschland nach anderen Gesetzen funktionieren würde. Reuß führt dagegen den ebenfalls empirischen Befund an, dass er zwar viele Verleger kennt, von denen aber keiner bestätigen kann, dass eine OA-Veröffentlichung Verkaufszahlen erhöht. Hhm, welche Verleger könnten das sein? Reuß kennt sicher einen Haufen Verleger, die noch gar nicht mit OA experimentiert haben. Aber die kann er ja nicht meinen. Dann kennt er womöglich Leute von Springer oder de Gruyter, da ja OA-Veröffentlichung von Zeitschriftenartikeln anbieten auf der Basis von Autorengebühren. Dass die OA-Veröffentlichung von Einzelaufsätzen den Verkauf von Zeitschriftenabos nicht erhöht, glaube ich ohne weiteres. Wen kann er sonst noch meinen? Antwort: Niemanden. Reuß’ Argument folgt hier wieder mal dem Muster: Wir finden OA alle doof, darum ist es doof.
Was offenbar auch nicht in Reuß’ Kopf will, ist der Zusammenhang zwischen Geld und Leistung. Schätzt Reuß die Leistung der Verlage, spricht ja nichts dagegen, dass er sie auch weiterhin einkauft. Er möchte, schreibt er, eine „zwanzigbändige Edition … eines Autors vorzulegen, mit den bestmöglichen Materialien, dem bestmöglichen Lektorat, dembestmöglichen Vertrieb und dem bestmöglichen Kommunikationszusammenhang innerhalb und außerhalb der Universität“. Das sind natürlich alles Leistungen, die Geld kosten, und für die Reuß offenbar das Aus sieht, wenn sie nicht mehr über ein klassisches Subskriptionsmodell finanziert würden. Die Frage ist schon, wie er darauf kommt. OA-Befürworter wissen, dass Veröffentlichen Geld kostet! Und niemand bestreitet das! Was bei OA frei ist, ist der Zugang. Und das muss mir Reuß noch besser erklären, wie eine Subskriptionsveröffentlichung einen besseren „Kommunikationszusammenhang“ schafft als eine freie Internetveröffentlichung.
Ah, Reuß' letztes Argument:
O-Ton Reuß: „Wie schwach muss eigentlich eine Position sein, die sich mit dem andauernden Aufruf von Phrasen wie „barrierefrei“ … wie mit fremden Blut stärkt?“
Was wollen Sie uns damit sagen, Herr Reuß? Dass für Sie Barrierrefreiheit keine gute Sache ist? Ohnehin: Wer im Glashaus sitzt…. Vergessen wir mal nicht, dass Sie sich bedenkenlos linker und rechter Rhetorik bedienen (siehe dazu den 1. Teil meiner Kritik). „Muss man mit diesen Transfusionen wirklich seinen Sprachkörper dopen?“ Argumentieren Sie hier für die Reinheit des Blutes der Argumentation?