Ursprünglich veröffentlicht: Philobar, 9.3.2009
Die geschätzte Heidrun Wiesenmüller hat im 3. Heft 2008 von Bibliothek. Forschung und Praxis (348-359) einen guten Überblicksartikel über die Functional Requirements for Bibliographical Records vorgelegt. Der Nutzen einer idealen FRBR-Anwendung im Katalog ist klar: da findet man sich schneller zurecht. Bei Wiesenmüller habe ich auch zum ersten Mal gelesen, was ich selbst seit Jahren denke: die Sacherschließung würde enorm von einer FRBRisierung profitieren!
Allerdings hat auch Wiesenmüllers Artikel meine Zweifel an dem Modell nicht zerstreut. Ich habe da zwei grundsätzliche Bedenken.
Man merkt den FRBR an, dass sie von Datenbankspezialisten erdacht wurden. Dass sie aber gebraucht werden von Leuten, die das nicht sind, kann nur zu Missverständnissen führen.
Die Ordnung von „Entitäten“ in Gruppen mit Eigenschaften (Attributen) und Beziehungen (Relationen) untereinander ist so ein Fall. Bekanntermaßen haben die FRBR in der ersten Gruppe der Entitäten 4 solcher Entitäten namens Werk, Expression, Manifestation und Exemplar. Die beiden mittleren Begriffe sind klarerweise Fachsprache und müssen nicht ohne Studium des FRBR-Grundwerks verstanden werden. Aber wie ist es mit „Exemplar“ und „Werk“? Tja, wenn ich mir ansehe, was FRBR unter Werk versteht, dann stelle ich fest, dass dies auch nicht ohne weiteres verständlich ist!
Ich zitiere nach Wiesenmüller: ein Werk ist eine „individuelle intellektuelle und künstlerische Schöpfung“, und Wiesenmüller erläutert: „Diese Entität ist so abstrakt, dass sie nicht einmal ein Attribut 'Sprache' besitzt“. Das müsste sie natürlich auch nicht, wenn es sich um ein nichtsprachliches Werk handelte, aber diese Bestimmung gilt ebenso für Texte, d.h. die FRBR ordnen das Attribut Sprache nicht auf der Ebene der Entität Werk, sondern darunter. Entspricht das meiner Intuition? Nein! Beispiel: Goethes Faust und Musils Mann ohne Eigenschaften sind doch deutschsprachige Werke, oder nicht?
Tja, worauf beziehen sich die FRBR, wenn sie sich auf etwas so Abstraktes beziehen, wie Faust ohne Sprache? Die Antwort: Auf gar nichts. Der Irrtum besteht darin, für die FRBR-Entität eine Entsprechung in der Welt zu suchen, d.h. die FRBR als ontologisches Modell zu interpretieren. Die FRBR sind ein epistemisches Modell, kein ontologisches. Übrigens ist dieser Irrtum dem Modell natürlich eingeschrieben, d.h. er ist nicht zu vermeiden. Auch Wiesenmüller legt ihn nahe, wenn sie die Entitäten der Gruppe 1 in einer hierarchischen Struktur zeigt und einen Pfeil „abstrakt → konkret“ vom Werk zum Exemplar zeichnet. Die Manifestation ist genauso abstrakt wie das Werk! D.h. es gibt keinen Gegenstand in der Welt, der einer Manifestation entspricht. Wiesenmüller schreibt auch, dass die Entität Werk „am ehesten im Kopf ihres Schöpfers verortet“ werden könne, „oder in der ganz allgemeinen Weise, in der man z.B. über den 'Herrn der Ringe' sprechen kann, ohne sich damit auf eine bestimmte Ausformung zu beziehen“ (S. 350). Auch dies ist viel zu konkret. Tatsächlich scheint es mir nur einen einzigen Satz zu geben, der sich über den Herrn der Ringe sagen lässt, der sich nicht auf eine bestimmte Ausformung bezieht, und das ist „Der Herr der Ringe ist von Tolkien.“ Aber das ist ja nur die Konkretion der Feststellung, dass Werke Schöpfer haben, was für meine Intuition zum Werk-Begriff ebenso stimmt wie für das FRBR-Modell.
Die Idee, dass man ein Werk „im Kopf seines Schöpfers“ verorten könne, es dort aber keine Sprache habe, legt jedenfalls eine These nahe über das Schöpferische und das Denken, die fragwürdig ist, und die ohnehin nicht nebenbei von einem Datenmodell geklärt werden kann: Können wir ohne Sprache denken? Und: Können wir ohne Sprache etwas Sprachliches denken? Die zweite Frage würde ich in jedem Fall mit „Nein“ beantworten. Auch das, was Tolkien, Musil, Goethe im Kopf hatten, sofern es schon Werk geworden war, war geformte Sprache. Aber ohnehin haben wir keinen Zugang zu dem, was dieser oder jene gedacht hat, darum halte ich es nicht für empfehlenswert, über die „Eigenschaften“ dieses Denkens zu spekulieren.
Die FRBR-Hierarchie ist eine Hierarchie wachsender Gemeinsamkeiten: unten sind die „Exemplare“, weil sie am wenigsten miteinander gemein haben und sich als Individuen (im ontologischen Sinne) ausmachen lassen. Der Ausdruck „Manifestation“ bezeichnet eine Menge gemeinsamer Attribute; mit ihm lässt sich eine Gruppe der Exemplare bilden. Der Ausdruck Expressions erlaubt es, größere Gruppen mit weniger Gemeinsamkeiten zu bilden. Der Ausdruck „Werk“ fasst schließlich die größte Gruppe mit dem kleinsten gemeinsamen Nenner.
Nimmt man die Kritik ernst, dass nur das Exemplar sich in der Welt als Gegenstand zeigt, dann ist das, was Goethe sich ausdenkt bzw. zu Papier bringt, ein Exemplar seines Dramas. Das klingt seltsam, liegt aber daran, dass in dieser Formulierung der Sprung direkt vom Werk zum Exemplar erfolgt. Eigentlich hätte ich FRBRisch schreiben müssen: dann ist das, was Goethe zu Papier bringt, ein Exemplar einer Manifestation einer Expression seines Dramas.
Ja, die zweite Merkwürdigkeit des FRBR-Modells ist die Gruppe der Entitäten, die Thema eines Werks werden können. Wiesenmüller erwähnt diese Kritik auch, darum brauche ich das hier nicht ausführlich anzuführen: Einiges, was in FRBR als „Eigenschaften“ von Entitäten begriffen wird, z.B. der „Ort“ einer Veröffentlichung, würde ich als Verknüfpung zweier Entitäten begreifen wollen. Aber im FRBR-Modell tauchen Orte als Entitäten nur in der Gruppe der Thema-Entitäten auf. Wenn ich Wiesenmüller recht verstehe, könnte ein Grund für diese Seltsamkeit sein, dass die amerikanische Katalogisierungspraxis bzw. die amerikanischen flachen Datenformate sich mit Verknüpfungen schwertun. Aber mir scheint der Gedanke naheliegend, im Hinblick auf eine spätere Verwendung, dass idealerweise alle nur irgend möglichen Dinge normiert und mit Verweisungsformen angereichert werden (z.B. Verlagsnamen, Erscheinungsorte etc.), und das bedeutet: verknüpfte Datenstruktur. Und wo man so verknüpft, könnte man doch gleich das Verknüpfte als „Entität“ im FRBRschen Sinne begreifen.