Ursprünglich veröffentlicht: Philobar, 25. Juli 2008
Im Heft 78 (2008) 1 des Library Quartly haben Robert V. Labaree und Ross Scimeca dies bejaht: The philosophical problem of truth in librarianship. (S. 43-70) Ui, ein philosophisches und bibliothekarisches Thema! Ich hatte angenommen, dass es über die professionelle Ethik hinaus eigentlich nicht viel zu erforschen gibt. Kann doch nirgendwo besser aufgehoben sein als hier!
Im Abstract heißt es, dass die Autoren ein „framework“ für die Frage nach der Wahrheit im Bibliothekswesen („librarianship“) entwickeln wollen. Dazu prüfen die Autoren Wahrheitskonzepte, die gegenwärtig in der (bibliothekarischen) Fachliteratur diskutiert werden, wobei sich herausstellt, dass da noch nicht allzu viel drüber nachgedacht wurde. Erstaunlich! *kopfschüttel* Daher mangelt es an Klarheit über die Beziehung zwischen Wahrheitstheorien und der praktischen Bibliotheksarbeit! Anschließend stellen die Autoren drei philosophische Wahrheitskonzepte vor, um schließlich ein viertes zu entwickeln, dass sich an einer „frühen Version des Historizismus“ orientiert. Das eröffne dann den theoretischen Rahmen für ein besseres Verständnis der „objektiven bibliothekarischen Praxis“, die schließlich nur im kontextualisierten Prozess der historischen Entwicklung gesehen werden dürfe.
Klingt kompliziert? Ich bin nach diesem Absatz neugierig, wo denn jetzt tatsächlich in der bibliothekarischen Arbeit – denn es geht den Kollegen um die Praxis – ein besseres, philosophisch fundiertes Verständnis von Wahrheit gebraucht wird. Darauf muss man dann noch ein bisschen warten; zunächst fassen Labaree und Scimeca den „Forschungsstand“ zusammen. Darauf geh ich jetzt nicht ein, nur zwei markante Beispiele. Ach ja, zum Forschungsstand gehört auch Floridis Werk, darauf bin ich schon mal eingegangen. Hier die beiden andern.
Die Autoren bringen 7 Gründe.
Klingt für mich, abgesehen vom Punkt 2 (Ethik) alles nach „Critical thinking“, was Grundlage jeden wissenschaftlichen Arbeitens ist und in Proseminaren gelehrt wird.
Naja, vielleicht bringt ja Larabees und Scimecas eigener Ansatz etwas Interessanteres und genuin philosophisches. Die fangen allerdings erst auf S. 57 damit an, und zwar indem sie bekannte philosophische Wahrheitstheorien auf die bibliothekarische Arbeit anwenden. Korrespondenztheorie, Kohärenztheorie und pragmatische Wahrheitstheorie sind ihre Kandidaten. Tatsächlich führen sie als eine Schwierigkeit der Korrespondenztheorie an, dass Sätze aus fiktionalen Texten keinem Sachverhalt in der Wirklichkeit entsprechen. Das ist Kinderkram!
Die zweite Schwierigkeit sei, dass postmoderne Denker gezeigt hätten, dass die Korrespondenztheorie ein westliches Verständnis von objektiver Wahrheit voraussetze. Die Aufgabe einer Bibliothek sei es, jegliche Information zu bewahren und Zugang zu ihr zu gewähren, unabhängig von ihrer objektiven Wahrheit. Sie kann also kein Konzept objektiver Wahrheit brauchen. – Tja, der Gedankengang leuchtet mir nicht ein, schon darum nicht, weil wir bei der Erwerbung nicht prüfen, ob das, was in einem Buch steht, auch wahr ist. Und den informationellen Wert eines Buches prüft man ohnehin eher selten danach, ob das, was drin steht, mit den Tatsachen der Wirklichkeit „übereinstimmt“. Für die Wahrheit von Büchern ist die Korrespondenztheorie sozusagen unterkomplex, daher wirkt es auf mich lächerlich, sie überhaupt dafür in Betracht zu ziehen.
Die Ausführungen zur Kohärenztheorie sind noch schwächer. Wieder geht es um den Inhalt bzw. die Wahrheit der Bücher. Die Autoren definieren die Kohärenztheorie so, dass eine Proposition dann und nur dann wahr sei, wenn sie keiner bereits als wahr akzeptierten Proposition widerspreche. Das ist natürlich grober Unfug in dieser naiven Formulierung. Nehmen wir das Beispiel, dass ich nicht weiß, wo meine Kinder sind, wenn ich nach Hause komme. Meine Nachbarin sagt: oh, die sind zum Kindergarten. In dem Moment ruft meine Frau an und sagt: wir sind alle zum Arzt gefahren. Jetzt habe ich zwei Propositionen (1. Kinder sind beim Kindergarten, 2. Kinder sind beim Arzt), die beide völlig im Einklang sind mit meinem übrigen Weltwissen, die ich also beide für wahr halten müsste bzw. ich müsste mich für eine entscheiden, die dann die andere unwahr machte. Labaree und Scimeca meinen natürlich nicht solche basalen Vorgänge, sondern sie denken an vorgestellte Theorien in Büchern (Freud, Galilei, die üblichen Verdächtigen) und sehen wieder die Bibliothek als Hort der Informationsfreiheit. Ja, richtig und gut, aber das hat doch nix mit der Kohärenztheorie zu tun!
Wahrheit ist das, was funktioniert, könnte man das zusammenfassen (übersimplifizierend, wie die Autoren wissen). Dagegen haben die Autoren erstmal keinen Einwand, meinen sogar, „pragmatism is the philosophical foundation of not only our profession but of all the social science that has emerged since the end of the nineteenth century“ (S. 61).
Labaree und Scimeca meinen, dass Bibliothekare schon deswegen mit Wahrheit zu tun hätten, weil jedes der Bücher in der Bibliothek auf einer der drei vorgestellte Theorien basiere: die Naturwissenschaften würden der Korrespondenztheorie folgen, die Kohärenztheorie regiere Logik und Mathematik, und sogar Romane hätten so etwas wie eine Wahrheit ihres eigenen Universums. Bibliothekare sollten aber nicht darüber entscheiden, sondern die Vielfalt der Wahrheitsansprüche einfach weitergeben, und dabei hilft ihnen eine historistische Konzeption von Wahrheit, dass eben das, was zu einem bestimmten Zeitpunkt von einer bestimmten Person für wahr gehalten wird, am besten durch die Zurhilfenahme historischer Faktoren erklärt werden kann (hinzu kommen natürlich weitere). Den Ursprung dieser Einsicht schreiben sie Johann Gottfried Herder zu. Das ist die im Abstract angekündigte historizistische Konzeption. An dieser Stelle bin ich dann auch beinahe mit der Banalität des Aufsatzes wieder versöhnt, weil’s einfach nett ist, einen Namen aus Good Ol’ Europe da zu lesen, statt mit den Erzamerikanern Dewey und James zu enden. Trotzdem finde ich es extrem enttäuschend, dass der ganze Aufsatz nicht wirklich ein „philosophical problem of truth in librarianship“ behandelt, sondern eigentlich nur „problem of truth in texts“ und wie die Texte sich zueinander verhalten. Anders ausgedrückt: der Anspruch ist hoch, das theoretische Instrumentarium gewichtig, das Resultat völlig banal.
Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass diese beiden amerikanischen Bibliothekare sich mit der Verwendung des Wortes Philosophie schwer tun. Sie nennen alles mögliche so, und der Aufsatz führt in seinem Forschungsüberblick daher auch ernsthaft Positionen an, die kaum des Nachdenkens wert sind (unter philosophischem Blickwinkel). Man sieht diese breite Verwendung des Worts ja auch in der DDC. Dabei ist dort nicht mehr gemeint, als wenn Jogi Löw im kicker-Interview feststellt, dass das wichtigste sei „eine Philosophie“ . Das heißt nicht mehr als: ein Konzept. Also einfach etwas Abstraktes als Grundlage für das konkrete Handeln.