Ursprünglich online veröffentlicht: Philobar, 10.1.2008
Vorsicht, das ist ein etwas längerer Essay …
Ich könnte sagen, ob es eine gibt, wenn ich wüßte, was das ist. Orientiert man sich an einem oberflächlichen Verständnis von „rechts“ und „links“ und hält sich daher an die Kulturpolitik des Dritten Reiches als Beispiel einer rechten, die Kulturpolitik der Sowjetunion oder der DDR als Beispiel einer linken Ästhetik, dann wäre die Frage mehr oder weniger empirisch. Es müßte lediglich erwiesen werden, daß den kulturpoltischen Entscheidungen Folgerichtigkeit zugrundelag, d.h.: eine Theorie.
Das Wort „Ästhetik“ ist mehrdeutig. Den Deutungen ist nicht gemeinsam, daß dem Bezeichneten eine Theorie unterstellt wird. Beschreibende (deskriptive) Ästhetik ist nicht an der Widerspruchsfreiheit ästhetischer Urteile interessiert. Vielmehr kommt es darauf an, das ästhetische Urteilen einer ausgewählten, bestimmten Gruppe festzuhalten (und, möglicherweise, zu formalisieren).
Ich verwende das Wort „Ästhetik“ nachfolgend zunächst im Sinne einer normativen (befehlenden/empfehlenden) Theorie, d.h. einer Theorie darüber, welche ästhetischen Werturteile zu fällen sind und/oder wie ein ästhetischer Gegenstand herzustellen ist, der positiv beurteilt werden kann. Eine solche Theorie beinhaltet auch Ansichten über das Funktionieren ästhetischer Urteile; sie erklärt, worüber ästhetische Urteile zu fällen sind und welche Bedeutung die dabei verwendeten Wörter haben. Da diese Ansichten Einfluß auf die normative Theorie haben können, sind sie ebenfalls von Interesse.
Als Gegenstand des Werturteils wird „Kunst“ angenommen. Was „Kunst“ im Einzelfall ist, hängt von der Theorie ab. Ausgeschlossen sein von der Betrachtung soll aber das „Naturschöne“, das für Hegel noch ein Aufgabenfeld der Ästhetik war. Wenn das Dritte Reich und die DDR (die Sowjetunion) verschiedenen normativen ästhetischen Theorien anhingen, dann müßte man diese Verschiedenheit den von den Kulturpolitiken geförderten oder befohlenen Kunstwerken anmerken können. „Zwischen 1954 und 1958 wurde auf den Leichenfeldern [des KZ-Geländes in Buchenwald] ein gigantischer Glockenturm angelegt, eine Totenstraße mit Pylonen und der Bronzeplastik Fritz Cremers, die eine siegreiche Häftlingsgruppe zeigt. Kolossalarchitektur, die Knigge an das erinnert, was während des Dritten Reiches gebaut wurde.“[1] Die Sowjetunion schenkte den Vereinten Nationen jene Plastik „Schwerter zu Pflugscharen“[2], die später zum bekannten Symbol der Friedensbewegung in Deutschland wurde. Sie ähnelt stilistisch (in der Betonung der muskulösen Nacktheit) den Statuen nationalsozialistischer Bildhauer, etwa dem „Genius des Sieges“ von Adolf Wamper. Beide Beispiele stammen aus der bildenden Kunst. Ich weiß zwar, daß in der Sowjetunion und im Dritten Reich mit einigen Musikern und ihrer Musik besonders umgegangen wurde; dieser Umgang bestand in Verboten. Parallel ist jedoch die Vorliebe für einfache Lieder (mit anfeuerndem oder huldigendem Text).[3] Über mögliche parallele Tendenzen in Literatur, Theater, Film usw. weiß ich nichts. Ich habe aber den Eindruck, daß – mögen die Theorien, wenn es welche gab, auch ausgesprochen verschieden gewesen sein – die Ergebnisse der Kulturpolitik sich ähnelten, d.h., auf einer abstrakteren Ebene, glichen. Das stellt infrage, ob es denn überhaupt verschiedene Ästhetiken gewesen seien. Ihnen ist gemeinsam, so wird deutlich an ihren Resultaten (ein genauerer Nachweis wäre zu führen), ihre Vorliebe für klare Struktur und Eindeutigkeit. Dabei hat die Eindeutigkeit auf die positive Gegenwart zu verweisen („Das haben wir schon geschafft!“) oder Vorbilder darzustellen (Heldendenkmäler, Allegorien). Wo Kunst abstrakt wird, in Musik oder Architektur, neigt man zum Einfachen, Großartigen.[4] Der Kulturpolitik der genannten Staaten war zudem die rigide Zensur gemeinsam. Die Gründe für die Zensur waren – bekanntermaßen – zum Teil unterschiedlich. Es war jedoch ebenso stigmatisch für einen Künstler, nicht der richtigen Rasse anzugehören, wie, ein Klassenfeind zu sein. Dabei ließ sich im Falle der Rassenangehörigkeit ohne Besichtigung des Kunstwerks über seine Güte entscheiden. Es ist dem Terminus „Kulturpolitik“ anzumerken, daß hinter ihm eine bestimmte Vorstellung von der Wirkung von Kunst steht. Die Aufgabe von Kulturpolitik ist es nun, die Künstler dahingehend zu beeinflussen, daß die Wirkung in die gewünschte Richtung geht. Den genannten Beispielen ist zu entnehmen, wie simpel die Vorstellungen über die Wirkungsmöglichkeit von Kunstwerken sind. Die Indienstnahme von Kunst braucht daher simple Kunstwerke. Einige der dem traditionellen Verständnis von guter Kunst impliziten Wertkriterien[5] wie etwa Originalität, handwerkliche Vollkommenheit, Einheit in der Vielfalt, scheinen keine Rolle zu spielen; stattdessen bestimmt sich die geforderte Kunst durch ihren Inhalt. Gemäß dem ebenfalls traditionellen Postulat der Übereinstimmung von Form und Gehalt („Gehalt-Gestalt-Einheit“) und dem bereits festgelegten Gehalt folgt dann eine immer wieder ähnliche Form. Die ideologische Staatskunst steht vor dem Widerspruch der utopischen Ideologie: daß nämlich der Istzustand schon positiv[6] zu bewerten, weil man sich nach dem ideologischen Selbstverständnis auf dem richtigen Weg befindet; daß aber der Sollzustand noch nicht erreicht ist. Vom Sollzustand aus nimmt man jedoch den Istzustand als ein Noch-nicht wahr, als ein Ungenügen. Ich versuche zu zeigen, daß die relative Ähnlichkeit ideologisch geforderter Kunst tatsächlich auf einem theoretischen Fundament (und nicht auf zufälliger empirischer Übereinstimmung) ruht. Das Kleine Wörterbuch der marxistisch-leninistischen Philosophie[7] erklärt Ästhetik als „den Bestandteil der Philosophie, der das Wesen und die Gesetzmäßigkeiten der ästhetischen Aneignung der Welt durch den Menschen untersucht“. Die „Resultate der ästhetischen Aneignung in Gestalt der Kunstwerke“ besitzen „einen Erkenntnisgehalt“ und üben „eine moralisch-erzieherische Wirkung“[8] aus. Kunstwerke sind dann gut, wenn sie dies in besonderem Maße zu tun vermögen. Die Ausgangsfrage muß nach diesem Befund neu überdacht werden. Zunächst schien es, als sei sie leicht zu beantworten. Die Überlegungen verliefen nach dem Muster: Finde eine ausgewiesene „linke“ Ästhetik, vergleiche sie mit einer ausgewiesenen „rechten“ Ästhetik. Wenn sich zwei so ausgewiesene Ästhetiken finden lassen, dann existieren sie; wenn sich im Vergleich relevante Unterschiede merklich machen, dann können wir sicher sein, daß es einen spezifisch „rechten“, spezifisch „linken“ Blick auf Kunstwerke gibt. Dieser Weg hat nicht weit geführt, da die anfangs in Betrachtung genommenen Theorien sich kaum zu unterscheiden scheinen. Sie sind eher Beweis für eine Beschränktheit ideologisch motivierter ästhetischer Theoriebildung, denn für eine Spezifik „rechten“ oder „linken“ Kunstbegegnens. Die Beschränktheit sehe ich dabei nicht in der Verschiedenheit ihrer Wertkriterien von den traditionellen – die aufzugeben eine ästhetische Theorie allerdings gute Gründe haben sollte –, sondern in einer logischen Implikation. Wenn die Kriterien für Kunst bzw. die Qualität von Kunst eindeutig sind, dann kann nicht über Kunst gestritten werden. „Dieses Kunstwerk ist gut“ ist dann gleichbedeutend mit „Das Kunstwerk hat die Merkmale a,b,c…“. Ob ein Kunstwerk diese Merkmale tatsächlich hat, ließe sich empirisch feststellen.[9] Damit jedoch eindeutig feststeht, ob das Kunstwerk gut ist oder oder nicht, muß die Merkmalkette vollständig sein. Das scheint mir unannehmbar.[10] Bevor ich aber die Frage verneine, die mir gestellt ist, setze ich lieber neu an. Welche Kriterien gibt es, damit ein Theorievorschlag als Theorie angenommen werden kann? Der Unterschied zu den Naturwissenschaften ist nicht so groß, wie es scheint. Theorien setzen sich durch, wenn sie tauglich sind: wenn sie erklärende Kraft haben und nicht allzuviel präsupponieren. Die Präsuppositionen einer Theorie (ihre Prämissen) müssen, wenn sie selbst nicht abgeleitet sind, evident sein. Evidenz ist ein unscharfes Kriterium; was evident ist, hängt von Kenntnis und Phantasie ab. Es ist mit Evidenz ein quasi irrationales, ein intuitives Kriterium für die Gültigkeit von ästhetischen Theorien eingeführt. Ich halte es für angemessen, Theorien, die die Frage nach rechter und linker Ästhetik beantworten könnten, auf ihre Tauglichkeit hin zu überprüfen. Eine Theorie, die von vornherein einen Großteil von dem, was gemeinhin „Kunst“ genannt wird, aus der Betrachtung ausschließt oder für minderwertig hält, kann mir die Ausgangsfrage nicht beantworten. Eine weitere Schwierigkeit besteht in dem ungeheuren Reichtum der Kunst, in der Vielfalt der Schaffensmöglichkeiten. Ein kurzer Blick auf das, was sich mit „Kunst“ zusammenfassen läßt, zeigt die grundsätzliche Verschiedenheit etwa von Musik, Literatur und bildender Kunst. Musik ist abstrakt und performativ; ein Bild statisch und möglicherweise gegenständlich. Literatur ist in ganz anderer Weise performativ als Musik – es vergeht Zeit beim Lesen, aber das Geschriebene ist fixiert. Musik reizt das Ohr, ein Bild das Auge. Literatur reizt keinen Sinn, sondern die Vorstellungskraft.[11] Es gilt nun, die Begriffe „rechts“ und „links“ anders zu füllen, damit die Frage neuen Sinn erhält. Dabei sollte, wenn die Beobachtungen und Folgerungen über ideologisch verhaftete Ästhetik richtig sind, ein einleuchtendes Verständnis von „rechts“ und „links“ zugrundeliegen, das nicht an Macht und Politik gebunden ist. Ein – wieder prima facie – plausibles Verständnis der Opposition rechts/links ist der Gegensatz konservativ/fortschrittlich. In den Bereich der ästhetischen Wahrnehmung übertragen entspricht es dem Paar Klassik/Avantgarde, wenn damit nicht jeweils bestimmte Epochen oder Stile gemeint sind. Fortschrittsglaube und -vertrauen lassen von jedem Neuen Gutes erwarten; Fortschrittspessimismus hingegen freut sich an dem Vertrauten und begegnet dem Neuen mit Widerwillen. Die Frage ist, ob es tatsächlich ästhetische Theorien gibt, die auf diese Weise sich wahrheitsgemäß „rechts“ oder „links“ nennen lassen. Der Gegensatz fortschrittlich/konservativ hängt sehr von der Zeit ab. Was heute neu, avantgardistisch und damit gut ist, kann morgen alt, klassisch und damit schlecht sein (oder umgekehrt). Eine Theorie der Avantgarde wäre die Festlegung auf einen der traditionell mit Kunst assoziierten Werte, nämlich auf den der Originalität. Eine Theorie der Klassik hätte hingegen die Schwierigkeit, Werke zu beurteilen, bevor diese kanonisch geworden sind. In einem etwas weniger oberflächlichen Verständnis von Klassik und Avantgarde könnte man allerdings so vorgehen. Der Wertekanon könnte von der Theorie jeweils komplett anerkannt werden; die avantgardistische Theorie legte besonderen Wert auf die Originalität, die klassische Theorie hingegen auf die Klarheit der Struktur.[12] Solche Theorien hat es gegeben. Sie sind insofern überzeugend, als sie nicht inhaltliche Kriterien angeben, sondern sich an formalen Gegebenheiten orientieren. Es scheint mir aber so, als seien diese Theoriemodelle keine Kandidaten für „rechts“ und „links“; ich verstehe „rechts“ und „links“ als eine Aussage eher über den betrachtenden Menschen als über das Kunstwerk. Eine „linke“ Ästhetik, scheint mir nach den voranstehenden Überlegungen, ist am ehesten eine, die „Kunst“ zu „Gesellschaft“ in Beziehung setzt – ohne dabei dem Künstler Vorschriften machen zu wollen. Eine „rechte“ Ästhetik ist am ehesten eine, die Kunst zum Einzelnen als Subjekt in Beziehung setzt – ohne dabei polemisch zu werden. Eine normative Ästhetik zu suchen in dem Sinne, daß sie beschriebe, wie man gute Kunstwerke herstellt, ist ein fruchtloses Unterfangen. Was eine ästhetische Theorie leisten kann, ist nicht das Vorschreiben, das Diktieren ästhetischer Imperative. Ästhetik im der Moderne angemessenen Verständnis ist die Systematisierung von Gedanken zur Interpretation und Bewertung von Kunstwerken, vor allem aber zum Status der Kunst selbst. Den Gedanken des ersten Vorschlags der Bedeutung von „rechts“ und „links“ als Namen für Ideologien aufnehmend, ist von einer ästhetischen Theorie eine Erklärung des Wirkens von Kunst zu erwarten sowie eine Stellungnahme zum klassischen Problem der Ästhetik „Warum ist Kunst?“ „Kunst“ im weitesten Sinne ist vom Menschen Gemachtes[13]. Jedes Geschaffene, das als solches erkennbar ist, verweist auf seinen Schöpfer. Wenn wir das Gemachte unterscheiden in „Werkzeug“ im weitesten Sinne und prima facie Nutzloses, dann können wir analog unterscheiden zwischen dem Verweisen des Werkzeugs auf seinen Zweck (das, wozu es Mittel ist)[14] und dem Verweisen des Kunstwerks auf etwas Anderes. Die plausibelste Möglichkeit, zwischen einer rechten und einer linken Ästhetik zu unterscheiden, ist die, zu prüfen, wie sie das „Andere“ bezeichnen. Eine alte Idee, die das Verhältnis von Kunst und Gesellschaft thematisiert, ist die „Widerspiegelungstheorie“ – das Kunstwerk verweise, indem es auf seinen Schöpfer weise, auf die ihn umgebenden Umstände, seine Umwelt, und lasse sich als Symptom der dem Künstler zeitgenössischen gesellschaftlichen Verhältnisse deuten. Wenn man diese starke These etwas abmildert, läßt sich Kunst als unwillkürlicher Ausdruck der Befindlichkeit deuten. Das Material, daß die Zeitgenossenschaft dem Künstler gewährt, wird verarbeitet und produktiv genutzt. „Unabdingbar bleibt der ästhetischen Brechung das, was gebrochen wird; der Imagination das, was sie vorstellt […] Der Akzent auf dem Moment des Artefakts in der Kunst gilt weniger ihrem Hervorgebrachtsein als ihrer eigenen Beschaffenheit; gleichgültig, wie sie zustandekam. Lebendig sind sie [die Artefakte] als sprechende, auf eine Weise, wie sie den natürlichen Objekten, und den Subjekten, die sie machten, versagt ist. […] Gerade als Artefakte aber, Produkte gesellschaftlicher Arbeit, kommunizieren sie auch mit der Empirie, der sie absagen, und aus ihr ziehen sie ihren Inhalt.“[15] Die Autonomie des Kunstwerks besteht darin, das Unerwartete und Unerwünschte zu sein, wobei beide „Un-“s nicht der Inhalt des Kunstwerks sein müssen. Adorno sieht dabei ein fortschreitendes Experimentieren der Kunst – denn hat sich die Gesellschaft die Form, die Sprache des Ausdrucks angeeignet, verliert Kunst die Fähigkeit zu verblüffen. „Das Gewalttätige am Neuen, für welches der Name des Experimentellen sich eingebürgert hat, ist nicht der subjektiven Gesinnung oder psychologischen Beschaffenheit der Künstler zuzuschreiben. Wo dem Drang kein an Formen und Gehalt Sicheres vorgegeben ist, werden die produktiven Künstler objektiv zum Experiment gedrängt.“[16] „Die ungelösten Antagonismen der Realität kehren wieder in den Kunstwerken als die immanenten Probleme ihrer Form. Das, nicht der Einsch[l]uß gegenständlicher Momente, definiert das Verhältnis der Kunst zur Gesellschaft.“[17] Für George Steiner verweist Kunst in anderer Weise: „Wie durch keine anderen Kommunikationsmittel wird uns durch ernstzunehmende Malerei, Musik, Literatur oder Bildhauerei die ungemilderte, unbehauste Instabilität und die Entfremdung unserer Conditio humana greifbar. […] Stärker als jeder andere Akt der Zeugenschaft sprechen Literatur und Kunst von den Widersetzlichkeiten des Undurchdringlichen, des absolut Fremden, auf das wir im Labyrinth der Intimität stoßen. […] Sie sprechen uns von dem unreduzierbaren Gewicht der Andersheit, des Eingeschlossenseins in Textur und Phänomenalität der materiellen Welt.“[18] „Wo es kompromißlos die Fragen unserer Conditio in Angriff nimmt, sucht das Dichterische die Mitteilungslosigkeit unserer Begegnungen mit dem Tod zu erhellen. […] Die zentrale Vorstellung des Künstlers, daß das Werk seinen eigenen Tod überdauern wird, und die existenzielle Wahrheit, daß große Literatur, Malerei, Architektur, Musik ihren Schöpfer überlebt haben, sind nicht akzidentell oder selbstreferentiell. Es ist die luzide Intensität der Begegnung mit dem Tod, die in ästhetischen Formen jene Aussage von Vitalität, von Lebensgegenwart erzeugt, die ernstes Denken und Empfinden vom Trivialen und Opportunistischen unterscheidet.“[19] „Die Begegnung mit dem Ästhetischen ist neben bestimmten Arten religiöser und metaphysischer Erfahrung der ‘ingressivste’ Aufruf zur Wandlung, zu dem menschliche Erfahrung fähig ist. […] Wenn wir den Flügelschlag und die Provokation jenes Besuches richtig wahrgenommen haben, dann ist das Haus nicht mehr in der selben Weise bewohnbar wie zuvor.“[20] Steiners und Adornos Gedankengänge sind vergleichbar. Die Provokation des Kunstwerks verunsichert. Für Steiner ist es eine existenziale Verunsicherung des Einzelnen, des Selbst, wobei das Kunstwerk zugleich die Erfahrung absoluter Freiheit ermöglicht: Kunst kann geschaffen werden oder nicht; nichts bringt sie notwendig hervor. Im Kunstschaffen und Kunstbegegnen beweist sich der Mensch eine Freiheit, die ihm sonst nicht erreichbar ist.[21] Von den strengen Ansprüchen an das Theoretische ist nichts geblieben. Was ich hier als „rechts“ und „links“ hin- und vorgestellt habe, sind keine normative Ästhetiken, sondern metaästhetische Überlegungen. Es wäre interessant, den normativ-ästhetischen Konsequenzen nachzuspüren, die sich für die Bewertung von Kunstwerken ergeben, falls sich welche ergeben. Die Ausgangsfrage „Gibt es eine rechte, eine linke Ästhetik?“ beantworte ich nun dahingehend, daß – für ein recht unbestimmtes Verständnis von „rechts“ und „links“ – unterschiedliche Sichtweisen auf Kunst bemerkbar sind. Diese Sichtweisen bestimmen das, was (gute) Kunst leistet, unterschiedlich. Für die mit dem Begriff „Ästhetik“ verbunden Probleme der Definition von Kunst sowie der qualitativen Bewertung von Kunstwerken sind sie unergiebig.