1. Quelle: Plato: Politeia (Der Staat), Erstes Buch. http://www.zeno.org/nid/20009262563
»Dieses eben aber, die Gerechtigkeit, sollen wir es nur so einfach als die Wahrhaftigkeit bezeichnen und als das Zurückgeben, wenn man etwas von jemand bekommen hat, oder heißt dieses selbst bald gerecht, bald ungerecht handeln? Ich meine z.B. einen Fall wie folgenden: Wenn jemand bei gesundem Verstande einem Freunde Waffen übergäbe und im Zustande des Wahnsinns sie zurückforderte, so wird wohl jedermann sagen, daß man weder zur Zurückgabe von dergleichen verpflichtet sei, noch der Zurückgebende gerecht wäre noch auch einer, der einem Menschen von diesem Zustande die volle Wahrheit sagen wollte.
Du hast recht, antwortete er.
Also ist nicht dies die Begriffsbestimmung der Gerechtigkeit, daß man die Wahrheit sagt und das Anvertraute zurückgibt.«
2. Quelle: Immanuel Kant: Über ein vermeintes Recht, aus Menschenliebe zu lügen. 1797. http://www.zeno.org/nid/20009192123
»… daß die Lüge gegen einen Mörder, der uns fragte, ob unser von ihm verfolgter Freund sich nicht in unser Haus geflüchtet, ein Verbrechen sein würde. … Wahrhaftigkeit in Aussagen, die man nicht umgehen kann, ist formale Pflicht des Menschen gegen jeden, es mag ihm oder einem andern daraus auch noch so großer Nachteil erwachsen … «
Wie dem instruktiven Wikipedia-Artikel über Kants kleinen Aufsatz zu entnehmen, stammt das eigentliche Szenario von Johann David Michaelis, dessen Moral in Göttingen 1792 erschien. Gegen dieses hatte sich Benjamin Constant 1797 gerichtet, und dessen These zitiert Kant eingangs, um dann seinerseits zu widersprechen. Constant hatte vertreten, dass man nur eine Pflicht hat, die Wahrheit zu sagen, gegenüber jemandem, der ein Recht darauf hat, die Wahrheit zu hören; und wer andern schaden wolle, habe ein solches Recht nicht. Kant hält dagegen, dass »Wahrhaftigkeit eine Pflicht ist, die als die Basis aller auf Vertrag zu gründenden Pflichten angesehn werden muß, deren Gesetz, wenn man ihr auch nur die geringste Ausnahme einräumt, schwankend und unnütz gemacht wird«. Sprich: Wer lügt, löst damit für den Alltag die Verlässlichkeit im Miteinander auf. Die Absolutheit dieser Schlussfolgerung wird man schlicht empirisch bestreiten können: tatsächlich wird in der Welt gelogen, aber Verträge haben wir trotzdem.
Platons Szenario hat demgegenüber einen anderen Ausgangspunkt. Die Wahrhaftigkeit wird hier im Zusammenhang mit der Gerechtigkeit besprochen, und daher ist es von Bedeutung, die Konsequenzen zu betrachten. Das Aufnehmen und Herausgeben der Waffen des Freundes scheint Platon als eine Art vertragliche Handlung zu betrachten, das Nichtherausgeben also als eine Vertragsverletzung, die aber gerechtfertigt ist, weil die Folgen nachteilig sind.
Tittle (2005: 164-165) macht auf eine moderne Version dieses Szenarios aufmerksam.