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gedankenexperimente:schiff_des_theseus

Schiff des Theseus

1. Quelltext

Quelle: Plutarch, Vita des Theseus, hier zitiert nach der (gemeinfreien) Übersetzung von Gottlob Benedict von Schirach: Biographien des Plutarchs mit Anmerkungen. Berlin und Leipzig, Decker, 1777, S. 40.

»Das Schiff, auf welchem Theseus mit seinen Begleitern nach Creta geschifft, und glücklich zurück gekommen war, hatte dreyßig Ruder, und, wurde von den Atheniensern bis auf die Zeiten des Demetrius Phalereus zum Andenken erhalten, indem man das veraltete Holz wegnahm, und dafür neues und festes einzog. Es gab nachher sogar den Philosophen zu ihren Streitfragen über die Veränderung der Dinge im Wachsthume ein Beyspiel ab, und einige behaupten, es wäre eben dasselbe, und andre, es wäre ein andres Schiff.«

Quelle: Thomas Hobbes: Elements of Philosophy. The first section, concerning body (transl. into english) Ch. XI. … zitiert nach: The english works of Thomas Hobbes … ed. by Sir William Molesworth, Vol 1 London: Bohn 1839, S. 136-137.

»For if, for example, that ship of Theseus, concerning the difference whereof made by continual reparation in taking out the old planks and putting in new, the sophisters of Athens were wont to dispute, were, after all the planks were changed, the same numerical ship it was at the beginning; and if some man had kept the old planks as they were taken out, and by putting them afterwards together in the same order, had again made a ship of them, this, without doubt, had also been the same numerical ship with that which was at the beginning; and so there would have been two ships numerically the same, which is absurd.«

2. Szenario

Theseus bringt sein Schiff auf die Werft, wo ein paar Planken ersetzt werden. Bei der nächsten Reparatur werden wieder einige der alten Teile ersetzt. Nach und nach werden bei Reparaturen alle Teile ersetzt, und der Werfteigner, der die alten Teile alle behalten hat, beschließt, daraus wieder Theseus' Schiff zusammenzusetzen. Das gelingt. Nun gibt es zwei Schiffe: das, welches Theseus benutzt, welches nach und nach aus dem alten entstanden ist, und das des Werfteigners, welches aus allen Originalteilen von Theseus' ursprünglichem Schiff besteht. Welches ist das echte Schiff des Theseus?

3. Kommentar

Es geht um die Identität eines Dinges über die Zeit betrachtet. Bei Plutarch scheint die Frage nur am Rande auf in anekdotischer Form; erst bei Hobbes entsteht sie in aller Schärfe durch die Doppelung der Schiffe: Das erste Schiff erhebt Anspruch darauf, das Schiff des Theseus zu sein, weil es dieses kontinuierlich über den Ersatz kleiner Teile hin geblieben ist. Und das zweite erhebt den Anspruch, das Schiff des Theseus zu sein, weil es aus allen Teilen des ursprünglichen Schiffes besteht, also mit dem ursprünglichen Schiff identisch ist. Der Widerspruch ergibt sich, wenn man der Meinung ist, dass nur ein Schiff das Schiff des Theseus sein kann.

Es gibt — in der Theorie — (mindestens) vier Möglichkeiten, die Frage zu beantworten, welches das echte Schiff des Theseus ist:

  1. das neue (dafür spricht die Kontinuität);
  2. das alte (dafür spricht die Identität der Teile);
  3. keines;
  4. beide.
  5. Oder man hält die Frage für nicht entscheidbar bzw. unsinnig.

Allerdings zeigt das Szenario auch, dass hier von sehr vielen Umständen abstrahiert werden muss: wenn auf der Werft die defekten Planken ausgetauscht worden sind, dürfte das dort aus den alten Teilen zusammengesetzte Schiff kaum seetauglich sein und damit auch in der Gesamtheit nur den Namen „Wrack des Theseus“ verdienen. Für dieses Wrack gilt außerdem, dass es nicht kontinuierlich existierte, denn von dem Moment des ersten Plankenaustauschs bis zur Wiederzusammensetzung in der Werft gab es dieses Wrack des Theseus nicht. Die Schwierigkeit besteht darin, dass hier die „X ist Teil von etwas“-Relation aufrechterhalten wird (die ausgetauschte Planke bleibt Teil des Schiffs des Theseus) auch über einen Zeitraum, indem X klarerweise nicht mehr Teil davon ist.

Zur Funktion der Form der Darbietung

Clark macht darauf aufmerksam, dass das ganze Szenario, je nach Art der Erzählung, eine bestimmte Lösung nahelegt. Theseus hätte z.B. sein ursprüngliches Schiff überholen wollen und sich daher entschieden, jede Planke einzeln auszubauen, zu reparieren, und wieder zusammenzusetzen. Um derweil ein Schiff zur Verfügung zu haben, hätte er die ausgebaute Planke durch eine billige Holzplanke ersetzt. Am Ende des Prozesses würde Theseus das aus den ursprünglichen, dann von ihm aufgearbeiteten Planken zusammengesetzte Schiff als sein eigenes Schiff betrachten, und das aus den billigen Ersatzteilen zusammengesetzte als ein anderes. Das zeigt, denke ich, dass wir für die Frage der Identität die Kontinuität bewerten und manche Erzählung der Kontinuität überzeugender finden als andere. Allerdings ergibt sich auch hier die Frage, zu welchem Zeitpunkt das erste Schiff aufhört, Theseus’ Schiff zu sein, und das zweite damit anfängt. Das sieht aus wie eine Variante des Sorites-Problems.

Clark meint, dass man sich nicht mit Stillhalten, mit Unentschlossenheit in der Identitätsfrage aus der Affäre ziehen kann: Was wäre, wenn eine Versicherung Theseus Schiff versichert hätte: wäre dann nach dem Prozess die Versicherung gültig für das erste oder das zweite Schiff?

5. Literatur

Enthalten in:

  • Baggini 2017, 31-33.
  • Bertram 2012, 224-229.
  • Clark 2007, 209-211.
  • Freese 1995, 84ff.
  • Levy 2017, 204-210. (Levy verweist auf „Großvaters Axt“ und „Das Messer von Jeannot“)
  • Staschok 2007, 51-53.
  • Worley 2014, 106-107.
  • Jay F. Rosenberg: Philosophieren. Ein Handbuch für Anfänger. Frankfurt : Klostermann, 1986. Darin S. 64-77: „Das Schiff des Theseus. Eine Fallstudie“. Rosenberg benutzt das Szenario in didaktischer Absicht: um zu demonstrieren, wie im Austausch der Argumente Kriterien für bessere und schlechte Argumente entstehen, wie also das Philosophieren anfängt.

5. Schlagworte

gedankenexperimente/schiff_des_theseus.txt · Zuletzt geändert: 2020/06/06 15:28 von jge