Jemand erzählt von seinem Freund Pierre Menard, der gestorben ist. Menard war Schriftsteller, und neben seinem sichtbaren Werk gibt es auch noch ein 'unsichtbares'. Menard habe Cervantes' Don Quijote neu schreiben wollen, und zwar nicht eine moderne Travestie oder irgendeine Umformung desselben, sondern den Text des Cervantes: „Sein bewunderswerter Ehrgeiz war vielmehr darauf gerichtet, ein paar Seiten hervorzubringen, die – Wort für Wort und Zeile für Zeile – mit denen von Cervantes übereinstimmen sollten“ (Borges, S. 165). Der Sinn des Versuches habe für Menard darin gelegen, die 'Unumgänglichkeit' des Textes zu zeigen. Indem er selbst über Vorstufen und Fassungen schließlich zum Text Cervantes' gelangt, begründet er ihn neu. Menards Text und Cervantes Text sind daher „Wort für Wort identisch (…), doch der zweite ist nahezu unerschöpflich reicher“ (S. 169).
Jorge Luis Borges: Pierre Menard, Autor des Quijote (EA 1944). Hier zitiert nach ders.: Sämtliche Erzählungen, München 1970.
Dies ist ein berühmtes literarisches Gedankenexperiment. Was ist ein Werk, was Originalität? Folgt man Genette (1993, 30), hat Borges mit dieser Erzählung gezeigt, „dass sogar die wörtlichste Abschrift eine Neuschaffung durch Verschiebung des Kontextes ist“. Ich bin mit Goodman und Elgin eher der Meinung, dass Menard und Cervantes Instanzen desselben Werks geschaffen haben: „jeder von uns kann dasselbe tun, und Druckerpressen und Fotokopierer tun es auch“ (Goodman & Elgin 1989, 87).