Quelle: Gaunilo von Marmoutiers, De insipiente, um 1178 n. Chr.
„Quid ad haec respondeat quidam pro insipiente“ / „Was ein Namenloser anstelle des Toren darauf erwidern könnte“
Hier zitiert aus: Kann Gottes Nicht-Sein gedacht werden? - Die Kontroverse zwischen Anselm von Canterbury und Gaunilo von Marmoutiers, Lateinisch - Deutsch, Übersetzt, erläutert und herausgegeben von Burkhard Mojsisch, mit einer Einleitung von Kurt Flasch, Mainz: Dieterich, 1989 (Excerpta Classica 4). gefunden: http://www.philo.uni-saarland.de/people/analytic/strobach/alteseite/veranst/mittelalter/GOTTESB.html
»Man erzählt sich, irgendwo im Ozean gebe es eine Insel, die einige wegen der Schwierigkeit oder vielmehr Unmöglichkeit, das, was nicht existiert, aufzufinden, ergänzend verschwundene Insel nennen und die, so geht die Sage, noch weit mehr, als es von den Inseln der Glückseligen berichtet wird, unermeßlich reich sei an lauter kostbaren Gütern und Annehmlichkeiten, niemandem gehöre, von keinem bewohnt werde und alle anderen bewohnten Länder durch ein Übermaß an Besitztümern allenthalben übertreffe. Daß dies so sei, könnte mir jemand sagen, und ich vermochte diese Rede, die ja keine Schwierigkeiten aufweist, ohne weiteres zu verstehen. Wenn er dann aber, als ergäbe sich dies folgerecht, mit der Zusatzbehauptung fortfahre: Du kannst nun nicht mehr daran zweifeln, daß diese unter allen Ländern vortrefflichste Insel wahrhaft irgendwo in Wirklichkeit existiert, steht es doch für dich außer Zweifel, daß sie auch in deinem Verstande ist; und weil es vortrefflicher ist, nicht allein im Verstande, sondern auch in Wirklichkeit zu sein, deshalb existiert sie notwendig so, denn wenn das nicht der Fall wäre, wäre jedes andere Land, das in Wirklichkeit existiert, vortrefflicher als sie, und so wäre sie. obwohl von dir bereits als unter allen Ländern vortrefflichstes verstanden, nicht das vortreffliebste - wenn er, so sage ich, mir dadurch einreden wollte, an der wahrhaben Existenz dieser Insel dürfe nicht mehr gezweifelt werden, nähme ich entweder an, er erlaube sich einen Scherz, oder ich wäre unschlüssig, wen ich für törichter halten sollte, mich, wenn ich ihm beipflichtete, oder ihn, wenn er glaubte, für das wesentliche Sein dieser Insel auch nur irgendwie einen sicheren Beweis erbracht zu haben …« (75/77)
Man sagt, irgendwo im Meer sei eine Insel, die die »verlorene Insel« genannt wird. Und man sagt, diese Insel besitze einen unschätzbaren Reichtum an allen möglichen Dingen, mehr als die Insel der Glückseligen. Die Insel ist die großartigste überhaupt — sie ist die perfekte Insel.
Nun stellen wir uns vor, jemand fragt sich, ob diese Insel wirklich existiert. Er argumentiert: Man kann keinen Zweifel haben, dass die Insel existiert, denn wir denken ja an sie. Und weil eine Insel perfekter ist, die nicht nur gedacht ist, sondern auch wirklich existiert, muss die perfekte Insel auch in der Wirklichkeit existieren. Ohne ihre Existenz wäre sie weniger perfekt als alle Landschaften, die tatsächlich existieren.
Gaunilos Gedankenexperiment ist eine Antwort auf Anselms Ontologischen Gottesbeweis (aus Proslogion, 1078 erschienen) und eine Reductio ad absurdum. Gaunilo formuliert hier zum ersten Mal den Einwand, dass man mit Anselms Beweisstrategie die Existenz von allem möglichen beweisen könnte. Implizit wird außerdem die Frage gestellt, wieso die Existenz von etwas perfekter sein sollte als die bloße Vorstellung davon.
In der Encyclopedia of Philosophy diskutiert R. E. Allen diesen Widerlegungsversuch (im Artikel „Anselm“ und weist darauf hin, dass Thomas von Aquin in seiner Summa theologiae ihn wohlwollend aufgenommen habe. Er merkt aber an, dass schon Anselm in seiner Antwort an Gaunilo darauf hingewiesen habe, das Experiment von der Verlorenen Insel sei eine Petitio: Man könne nicht einfach annehmen, dass ein Begriff seine Anwendbarkeit nicht impliziert, um ein Argument zu widerlegen, welches von einem Begriff ausgeht, der es tut. Auch könne man nicht aus der Analogie argumentieren, wenn es um ein Konzept gehe, dass keine Analogien hat: das Konzept des 'Größten, von dem ein Größeres nicht vorgestellt werden kann'. Anselm meinte, dieses Konzept unterscheide sich gerade darin von anderen, dass sein Gegenstand eben nicht als nichtexistent vorgestellt werden könnte.
Auf der anderen Seite scheint Anselms Argument nicht weniger voraussetzungsreich zu sein, denn auch er behauptet schlicht, dass es ein Konzept gibt, das sich auf diese Weise von allen anderen unterscheide.
Enthalten in: Tittle 2005, 28-29.
Kenneth Einar Himma: Anselm: Ontological Argument for God's Existence. In: Internet encyclopedia of philosophy. https://www.iep.utm.edu/ont-arg/#SH2b