John Locke: Essay concerning human understanding, 2. Aufl. London 1694, Book 2, Ch. 9, Sec. 8. Hier zitiert nach der Ausgabe London …
»To which purpose I shall here insert a problem of that ingenious and studious promoter of real knowledge, the learned and worthy Mr Molineaux, which he was pleased to send me in a letter some months since; and it is this: suppose a man born blind and now adult, and taught by his touch to distinguish between a cube and a sphere of the same metal, and mighly of the same bigness, so as to tell when he felt one and the other, which is the cube, which the sphere. Suppose then the cube and the sphere placed on a table, and the blind man be made to see: quare, “whether by his sight, before he touched them, he could now distinguish and tell which is the globe, which the cube?” to which the acute and judicious proposer answers, not. For though he has obtained the experience of how a globe, how a cube affects his touch; yet he has not yet obtained the experience, that what affects his touch so or so, must affect his sight so or so; or that a protuberant angle in the cube that pressed his hand unequally shall appear to his eye as it does in the cube. I agree with this thinking gentleman, whom I am proud to call my friend, in his answer to this his problem; and am of opinion that the blind man, at first sight, would not be able with certainty to say, which was the globe, which the cube, whilst he only saw them: though he could unerringly name them by his touch, and certainly distinguish them by the difference of their figures felt. This I have set down, and leave with my reader, as an occasion for him to consider how much he may be bcholden to experience, improvement, and acquired notions, where he thinks he had not the least use of, or help from them: and the rather, because this observing gentleman farther adds, that having, upon the occasion of my book, proposed this to divers very ingenious men, he hardly ever met with one, that at first gave the answer to it which he thinks true, till by hearing his reasons they were convinced.«
Deutsch: John Locke: Versuch über den menschlichen Verstand. In vier Büchern. Band 1, Berlin 1872. http://www.zeno.org/nid/20009208054
»Ich will zu dem Ende hier eine Frage einschalten, welche mir Herr Molineaux, der geistreiche und eifrige Beförderer der Erfahrungswissenschaften vor einigen Monaten brieflich mitgetheilt hat. Man stelle sich nämlich einen blindgebornen Mann vor, der erwachsen ist und durch sein Gefühl einen Würfel und eine Kugel von demselben Metall und ohngefähr derselben Grösse zu unterscheiden gelernt hat, so dass er angeben kann, ob er die Kugel oder den Würfel fühle. Nun nehme man an, beide würden auf einen Tisch gelegt, und der Blinde erhalte sein Gesicht; hier fragt es sich nun, ob er, ehe er die Kugeln befühlt, sagen kann, welches der Würfel und welches die Kugel sei? Der scharfsinnige Fragesteller sagt: Nein. Der Mann wisse zwar aus Erfahrung, wie sich eine Kugel und wie ein Würfel anfühle, allein er wisse noch nicht aus Erfahrung, ob das, was sein Gefühl so oder so errege, auch sein Gesicht so oder so erregen müsse, und dass eine vorstehende Ecke in dem Würfel, die seine Hand ungleich drückte, seinem Auge so erscheinen müsse, wie es bei einem Würfel geschehe. Ich stimme diesem scharfsinnigen Herrn, den ich stolz bin, meinen Freund zu nennen, darin bei, und glaube, dass der blinde Mann bei dem ersten blossen Sehen nicht mit Bestimmtheit wird angeben können, welches die Kugel und welches der Würfel ist, wenn er auch nach seinem Gefühl sie sicher bezeichnen, und mit Bestimmtheit nach diesem Sinne ihre Gestalten unterscheiden kann. Ich begnüge mich hiermit und überlasse es dem Leser, danach zu überlegen, wie viel er der Erfahrung für die Berichtigung bereits erworbener Begriffe verdankt, wo er vielleicht glaubt, nicht die mindeste Hülfe und Dienst von ihr zu empfangen; und zwar um so mehr, da jener Herr noch hinzufügt, dass er in Anlass meines Buches die Frage manchem sehr scharfsinnigen Manne vorgelegt habe, und kaum einer die richtige Antwort gegeben habe, bis seine Gründe ihn überzeugt hätten, dass er sich geirrt habe.«
Man stelle sich vor: Jemand ist von Geburt an blind und hat sich seine Umwelt unter anderem durch Tasten erschlossen. Er hat durch Tasten einen Begriff von Rundheit und Kantigkeit bekommen und so kann er leicht Kugeln von Würfeln unterscheiden. Wenn er als Erwachsener auf einmal Sehkraft erlangte: Könne er allein aufgrund seiner visuellen Wahrnehmung entscheiden, wenn man ihm Würfel und Kugel vorlegte, welches von beiden die Kugel, welches der Würfel ist?
Problem und erste Antwort stammen von William Molyneux (1656-1698), dem Gründer der Dublin Philosophical Society. Das Problem heißt daher in der Literatur »Molineux's Problem«, und es gibt eine umfangreiche Monographie von Marjolie Degenaar dazu, die auch den Artikel in der SEP schrieb.
Schon damals haben kluge Leute eingewandt, dass eine Kugel dem Blinden den Eindruck von »Gleichheit von allen Seiten« vermitteln könnte — ein Eindruck, der sich durch Tasten wie durch Sehen, möglicherweise, erkennen ließe.
Das Gedankenexperiment ist mir zum ersten Mal begegnet im 5. Kapitel von David Bermans Buch Berkeley and Irish philosophy. Berman skizziert die Rezeptionsgeschichte des Gedankenexperiments ein bisschen weiter, auch hin zu Berkeley. Der meinte, dass der sehend gemachte Blinde vermutlich nicht einmal verstehen würde, was man von ihm wollte, also mit der Frage nichts anfangen könnte. Demgegenüber war Hutcheson der Ansicht, dass Sicht und Gefühl die 'gleiche Idee' betreffen und daher durchaus die Ähnlichkeit zwischen Seheindruck und Tasteindruck erkennen lassen. Wie Leibniz war Hutcheson nämlich besorgt, dass die These, der sehend gewordene könne die beiden Körper nicht unterscheiden, bedeuten würde, er wäre unfähig, Geometrie zu lernen. Das galt beiden als unannehmbar. Warum die Geometrie hier ins Spiel kommt? Für Leibniz wie für Hutcheson war die Grundlage, dass Eindrücke verschiedener Sinne die gleiche Idee betreffen können. Berman entfaltet schön, wie das alles zusammenhängt.
Manche Gedankenexperimente können nicht empirisch nachvollzogen werden — hier wäre ich doch zu neugierig, ob Berkeley oder Hutcheson recht haben. Offenbar gab es im 19. Jahrhundert einen Fall, der von einigen als empirischer Beleg betrachtet wurde.
Ich neige zu der Ansicht, dass der Sehend gewordene das Sehen und die Interpretation von Eindrücken erst lernen müsste. Das heißt, er müsste wohl erst einmal erkennen lernen (in der Hutchesonschen Terminologie), dass genau dieser Seheindruck wirklich mit der Idee der Regelmäßigkeit verknüpft ist.
Enthalten in: Levy 2017, 187-192; Tittle 2005, 110-111.
Degenaar, Lokhorst 2017: Marjolein Degenaar and Gert-Jan Lokhorst: „Molyneux's Problem“, The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Winter 2017 Edition), Edward N. Zalta (ed.), https://plato.stanford.edu/archives/win2017/entries/molyneux-problem/.
Degenaar 1996: Marjolein J. L. Degenaar: Molyneux’s Problem: Three Centuries of Discussion on the Perception of Forms. Dordrecht: Kluwer, 1996.
Berman 2005: David Berman: Berkeley and Irish philosophy. London, New York: Continuum, 2005.