Aristoteles, Nikomachische Ethik, Buch 1. http://www.zeno.org/nid/20009149988
»Soll man nun auch sonst keinen Menschen glücklich preisen, solange er noch lebt? Muß man wirklich wie Solon meint erst das Ende abwarten? Gesetzt also auch, man müsse diesen Satz gelten lassen: wäre jemand dann wirklich glücklich, wenn er gestorben ist? Oder ist dies nicht vielmehr eine völlig widersinnige Ansicht, abgesehen von allem anderen schon aus dem Grunde, weil wir die Eudämonie in einer Art von Wirksamkeit (Gigon übersetzt: Tätigkeit) finden? Schreiben wir aber dem Gestorbenen keine Eudämonie zu, und ist es auch gar nicht das, was Solon hat sagen wollen, sondern vielmehr nur dies, daß man einen Menschen erst dann als einen, der nunmehr aus dem Bereiche des Übels und des Mißgeschickes entronnen ist, mit Sicherheit glücklich preisen kann, so gibt doch auch das wieder Anlaß zu einem Streit der Ansichten. Man möchte doch eher meinen, daß es für den Verstorbenen Schlimmes und Gutes gibt, wenn es doch dergleichen auch für den Lebenden gibt, ohne daß dieser es gewahr wird, wie Ehre und Schande, wie der Kinder und überhaupt der Nachkommen Wohlergehen und Mißgeschicke.
Indessen ein Bedenken findet sich auch dabei. Wer bis zum hohen Alter ein glückliches Leben geführt und einen dem entsprechenden Tod gefunden hat, den können doch immer noch in seinen Nachkommen viele wechselnde Geschicke betreffen; es können die einen brav sein und ein ihrem Verdienst entsprechendes Lebenslos ziehen, während die anderen dazu das Gegenteil bilden. Offenbar ist auch die Möglichkeit gegeben, daß sie sich nach der Größe des Abstandes von den Vorfahren mannigfach verschieden verhalten. Nun wäre es doch eine seltsame Vorstellung, daß auch der Verstorbene ihre wechselnden Geschicke mit ihnen erlebte und danach bald glücklich, bald elend würde, und ebenso seltsam die Vorstellung, daß das Geschick der Nachkommen die Vorfahren gar nicht, auch nicht zeitweise, berühren sollte.«
Hat man ein gutes Leben gelebt, dann wird man doch nach dem Tod sagen können: Das war ein gelungenes Leben! Aber was ist, wenn sich das, was man im Leben getan hat, nicht erfolgreich fortsetzt? Kinder, die man gut auf den Weg gebracht zu haben glaubte, werden krank, arbeitslos, geraten auf die schiefe Bahn. Das große Projekt, das man geschaffen hat, wird nach dem Tod aufgegeben und abgewickelt, die Ergebnisse der Arbeit in Zweifel gezogen. Würde man nicht diese Ereignisse zur Bewertung des Lebens hinzuziehen wollen?
Für Aristoteles geht es im ersten Buch der Nikomachischen Ethik um die Bestimmung des »guten Lebens« (Eudaimonia) als Ziel des Lebens. Und darum diskutiert er das von Solon überlieferte Diktum, niemand sei »vor seinem Tode glücklich zu preisen«. Muss man also das gute Leben von seinem Ende her beurteilen? Aristoteles sagt: Nein, denn wir neigen dazu, die Bewertung eines Lebens auch von seinen Folgen abhängig zu machen. Das führt ihn dann zu der Überlegung, dass die Eudaimonia als Handlungsziel nicht etwas sein kann, was nur von äußeren Faktoren außerhalb der macht des Handelnden abhängen kann.
Enthalten in: Bossart 2018, 16ff.