Stellen wir uns vor: Sie wachen eines Morgens auf und finden sich Rücken an Rücken im Bett mit einem bewusstlosen Geiger. Einem berühmten bewusstlosen Geiger. Man hatte herausgefunden, dass er an einer tödlichen Nierenkrankheit litt. Der Verein der Musikliebhaber hat alle erreichbaren medizinischen Unterlagen untersucht und festgestellt, dass nur Sie den richtigen Bluttyp haben. Also haben die Sie gekidnappt, und letzte Nacht wurde der Blutkreislauf des Geigers an Ihren angeschlossen, so dass Ihre Nieren Schadstoffe aus seinem Blut filtern können genau wie aus Ihrem. Der Chef der Klinik sagt Ihnen: „Tut uns Leid, dass diese Musikliebhaber Ihnen das angetan haben: hätten wir davon gewusst, hätten wir das nie erlaubt. Aber jetzt, wo sie's getan haben, ist der Geiger an Sie angeschlossen. Ihn abzukoppeln hieße, ihn zu töten: und das können wir nicht tun. Aber seien Sie unbesorgt, das ist nur für 9 Monate.Dann wird er sich von seiner Krankheit erholt haben und kann ohne Schaden von Ihnen abgekoppelt werden.“
Tja, was nun? Was, wenn der Arzt nicht von 9 Monaten, sondern von 9 Jahren gesprochen hätte? Oder für den Rest Ihres Lebens? „Alle Personen haben ein Recht auf Leben, und Geiger sind Personen. Natürlich haben Sie das Recht zu entscheiden, was in und an ihrem Körper passieren soll, aber das Lebensrecht des Geigers wiegt schwerer. Also können Sie nie losgekoppelt werden.“ Wäre das überzeugend?
Thomson, Judith Jarvis: A defense of abortion. In: Philosophy and Public Affairs, 1 (1971), H. 1, 47-66.
Thomson versucht mit dem Gedankenexperiment zu zeigen, dass Abtreibung unter bestimmten Bedingungen moralisch erlaubt sein kann: nämlich dann, wenn die Schwangere unfreiwillig zu ihrer Schwangerschaft gekommen ist, etwa im Falle einer Vergewaltigung.