Giovanni Battista Benedetti: Demonstratio proportionum motuum localium, Venedig 1554 (Iden des Februar).
(Es gab zwei verschiedene Drucke 1554, vgl. Drabkin 1963).
Englische Übersetzung in: Israel E. Drabkin; Stillman Drake (editors): Mechanics in Sixteenth-Century Italy. Selections from Tartaglia, Benedetti, Guido Ubaldo, and Galileo (= Publications in Medieval Science. Bd. 13). University of Wisconsin Press, Madison, WI u. a. 1969, hier S. 158. (Meine Übersetzung der englischen Übersetzung):
»Stellen wir uns zwei Körper O und G vor (von derselben Form und aus demselben Material, wobei O viermal so groß ist wie G), die sich in einer Leere bewegen, und einen Körper, der so groß ist wie O (aus demselben Material), geteilt in 4 gleiche Teile. In diesem Fall wird jeder dieser Teile dem Körper G gleich sein in Gewicht und Größe. Wir nennen diese Teile N, L, K und H, und sie zusammen sind O gleich an Gewicht, wie offensichtlich ist, da sie ja aus demselben Material sind. Ich verbinde sie mit einer Leine durch ihre Mitten. Offensichtlich werden die Körper N, L, K und H mit der gleichen Geschwindigkeit fallen wie der Körper O, weil sie keinen Widerstand erfahren (in der Leere) und ihr Gewicht dasselbe ist (wie das von O). Außerdem wird Körper G sich mit derselben Geschwindigkeit bewegen, mit der sich die mit einer Leine durch ihre Mitten verbundenen Körper N, L, K, H zusammen bewegen. Daher wird G sich mit derselben Geschwindigkeit bewegen wie O (nach dem ersten Euklidischen Axiom). Es ist daher klar, dass Körper aus demselben Material, obwohl von verschiedener Größe, sich (durch die Leere) mit gleicher Geschwindigkeit bewegen.«
Galileo Galilei: Discorsi e dimostrazioni matematiche intorne a due nuove scienze attenenti ala mecanica & i movimenti locali. Leiden, 1638.
Hier zitiert in der Übersetzung von Arthur von Oettingen, Leipzig 1890-1904:
»Ohne viel Versuche können wir durch eine kurze, bindende Schlussfolgerung nachweisen, wie unmöglich es sei, dass ein größeres Gewicht sich schneller bewege, als ein kleineres, wenn beide aus gleichem Stoff bestehen; und überhaupt alle jene Körper, von denen Aristoteles spricht. (…) Wenn wir zwei Körper haben, deren natürliche Geschwindigkeit verschieden sei, so ist es klar, dass wenn wir den langsameren mit dem geschwinderen vereinigen, dieser letztere von jenem verzögert werde müsste, und jener, der langsamere, müsste vom schnelleren beschleunigt werden. (…) Aber wenn dies richtig ist, und wenn es wahr wäre, dass ein großer Stein sich z.B. mit 8 Maß Geschwindigkeit bewegt, und ein ein kleinerer Stein mit 4 Maß, so würden beide vereinigt eine Geschwindigikeit von weniger als 8 Maß haben müssen; aber die beiden Steine zusammen sind doch größer als jener größere Stein war, der 8 Maß Geschwindigkeit hatte; mithin würde sich nun der größere langsamer bewegen, als der kleinere; was gegen Eure Voraussetzung wäre. Ihr seht also, wie aus der Annahme, ein größerer Körper habe eine größere Geschwindigkeit als ein kleinerer Körper, ich Euch weiter folgern lassen konnte, dass ein größerer Körper langsamer sich bewege als ein kleinerer.«
Homogene Körper derselben Form fallen mit der gleichen Geschwindigkeit, egal welche Größe sie haben. Das verteidigt Benedetti mit der Überlegung, eine Kugel werde nicht schneller fallen als die n Kugeln, in die man sie zerlegen könnte, wenn diese n Kugeln mit einer gewichtslosen Leine verbunden würden. Weil die verbindende Leine keinen Einfluss auf die Geschwindigkeit hat, wird jede Kugel dieselbe Fallgeschwindigkeit haben wie die größere. (Nach Drabkin 1963)
Benedettis Fassung sieht aus wie ein Vorläufer zu Galileis berühmtem Gedankenexperiment. Benedetti befindet sich, wie Galilei, mitten auf dem Weg zur modernen Physik. Seine Demonstratio richtet sich gegen die Aristotelische Theorie des Fallgesetzes, indem es das spezifische, nicht das absolute Gewicht zum bestimmenden Faktor der Fallgeschwindigkeit macht und auch der Dichte des Mediums, durch das die Körper fallen, eine andere Rolle zuschreibt.
Drabkin macht darauf aufmerksam, dass die beiden Drucke der Demonstratio (deren vermutlich späterer genauer mit einem Druckvermerk »Iden des Februar 1554« datiert ist) sich unterscheiden in dem Gewicht, das sie dem Medium zumessen, durch das die Körper fallen. Benedetti muss aufgefallen sein, dass eine größere Oberfläche eines Körpers einen größeren Widerstand beim Fall durch das Medium, z.B. die Luft, bedeutet, so dass sich daraus ein Unterschied in der Fallgeschwindigkeit ergeben kann.
Benedettis Demonstratio wurde 'plagiiert' von Jean Taisnier: Opusculum perpetua memoria dignissimum, 1562 (auch dies nach Drabkin).
Galieis Fassung ist ein klassisches Gedankenexperiment, das in den allgemeinen Überlegungen zum Thema gerne angeführt wird (z.B. Brown 1991 u.a., Norton 1991 u.a., Sorensen 1992, McAllister 1996, Gendler 1998 u.a.). Dabei dient es vor allem Brown in seiner rationalistisch-platonischen Konzeption von Gedankenexperimenten als Beispiel für die These, dass Gedankenexperimente echten Erkenntnisgewinn erreichen können. Demgegenüber vertritt Norton, dass Gedankenexperimente argumentive Szenarien seien, die keine Erkenntnis ausgeben könnten, welche nicht schon in den Prämissen steckte. Beiden geht es dabei in erster Linie um Gedankenexperimente in der Naturwissenschaft. Dass für eine solche argumentative Indienstname das Szenario nicht recht taugt, zeigen Atkinson & Peijnenburg 2004, die deutlich machen, dass a) das Gedankenexperiment unvollständig ist in dem Sinne, dass das Szenario die Schlussfolgerung nur stützt mithilfe unausgesprochener weiterer empirischer Annahmen (und daher nicht betrachtet werden darf als Erkenntnisgewinn apriori), dass b) die philosophische Betrachtung des Experiments weitgehend von historischen Kenntnissen (über den sich vollziehenden Paradigmenwechsels weg von der Aristotelischen Konzeption der Fallgesetze) unbeleckt sei.
Kühne (2005, 33) hebt überdies hervor, dass es Galilei nicht darum ging zu zeigen, wie Körper tatsächlich fallen. Das sei zur Zeit der Abfassung Galilei längst bekannt gewesen, auch in der Quelle der Discorsi führe Galilei eine Menge echter Experimente an, die dies zeigten. Bekanntermaßen richtet sich das Gedankenexperiment gegen Aristoteles, dessen Theorie zum Fall falsch war, und zwar gegen Physica Delta 8 (216a13-21), wobei Kühne zeigt, dass die Galileische und ihm zeitgenössische Interpretation der entsprechenden Passage auf einem Missverständnis beruht.
Es gibt eine Reihe von Studien über den Ursprung der Galileischen Lehre, z.B. die von E. Moody im Journal of the history of ideas 12 (1951) »Galileo and Avempace«, wo gezeigt wird, wie alt die Kritik an Aristoteles schon ist und welche Argumente dafür gebraucht werden.
Für mich ist noch die Frage interessant, ob Galileis Gedankenexperiment in Benedettis Überlegungen wurzelt oder ob das bloß Ähnlichkeiten sind. Dabei ist hinzuzufügen, dass Galileis eigene frühere Fassungen — die Genese des Szenarios kann man gut bei Palmieri 2005 nachlesen — nicht vom Fall zweier Körper durch die Luft handeln, sondern von zwei Körpern, die durch ein dichteres Medium sich bewegen: durch Wasser.
Die Galileische Fassung ist enthalten in: Levy 2017, 25-29. Cohen 2010, 45-51.
Moody 1951 A: Ernest A. Moody: Galileo and Avempace: The Dynamics of the Leaning Tower Experiment (I). In: Journal of the History of Ideas 12 (1951) 2 (Apr), 163-193 http://www.jstor.org/stable/2707514.
Moody 1951 B: Ernest A. Moody: Galileo and Avempace: The Dynamics of the Leaning Tower Experiment (II). In: Journal of the History of Ideas 12 (1951) 3 (Jun), 375-422 http://www.jstor.org/stable/2707752.
Drabkin 1963: Israel Edward Drabkin: Two Versions of G. B. Benedetti's Demonstratio Proportionum Motuum Localium, in: Isis 54 (1963) 2 (Juni): 259-262.
Atkinson, Peijnenburg 2004: David Atkinson, Jeane Peijnenburg: Galileo and prior philosophy. In: Studies in history and philosophy of science 35 (2004) 1, 115-136.
Palmieri 2005: Paolo Palmieri: »Spuntar lo scoglio più duro«. Did Galileo ever think the most beautiful thought experiment in the history of science? In: Studies in history and philosophy of science A. 36 (2005) 2, 223-240.