Quelle: Aristoteles, Physik, 6. Buch, 9. Kapitel. Hier in der (gemeinfreien) deutschen Übersetzung von Christian Hermann Weiße von 1829. http://www.zeno.org/nid/20009149201
»Vier aber sind Zenons Sätze über Bewegung, die in Schwierigkeiten verwickeln die Lösenden. … Der zweite, der sogenannte Achilles. Er besteht darin, daß das Langsamere nie eingeholt werden wird im Laufen von dem Schnelleren. Denn vorher muß dahin kommen das Verfolgende, wovon auslief das Fliehende: so daß stets etwas voraus haben muß das Langsamere. Es ist aber dieser Satz der nämliche mit dem Zerspalten in zwei. Er unterscheidet sich nur in der Art des Theilens, indem er nicht in zwei spaltet die angenommene Ausdehnung. Daß nun nicht eingeholt wird das Langsamere, folgt aus dem Satze; es geschieht aber auf dieselbe Weise, wie bei der Spaltung in zwei. Denn bei beiden erfolgt es, daß man nicht gelangt zu dem Ende, indem irgendwie getheilt wird die Ausdehnung. Doch wird noch hinzugesetzt bei diesem, daß auch nicht das Schnellste; indem man es auf das Aeußerste treibt bei dem Verfolgen des Langsamern. Also muß auch die Lösung die nämliche sein. Zu behaupten aber, daß das was voraus ist, nicht eingeholt wird, ist falsch. Indem es nämlich voraus ist, wird es nicht eingeholt; aber es wird dennoch eingeholt, wenn man zugiebt, daß durchgangen wird der begrenzte Raum.«
Achilles und die Schildkröte machen ein Wettrennen. Weil Achilles der Schnellste der Sterblichen ist (er läuft zehnmal schneller als die Schildkröte), gewährt er der Schildkröte 10 Schritte Vorsprung. Kann er die Schildkröte je einholen? Man bedenke: Während er die 10 Schritte Vorsprung aufholt, legt die Schildkröte einen Schritt zurück; während er diesen aufholt, läuft sie 1/10 Schritt; während er diesen aufholt, läuft sie 1/100 Schritt: Immer wenn Achilles dort ankommt, wo die Schildkröte eben war, ist diese schon ein (immer kleiner werdendes) Stückchen weiter. Also kann er die Schildkröte nicht einholen.
Das Szenario dient dazu, über den Zusammenhang der Begriffe Zeit, Bewegung, Raum nachzudenken.
Für R. M. Sainsbury (1993, 34) ist Zenos Szenario die »berühmteste aller Paradoxien«. Sie hat Eingang in zahlreiche Sammlungen gefunden. Zenos Bewegungsparadoxa sind schon in Aristoteles’ Wiedergabe eine Gruppe von vier Szenarien, deren zweites der Wettlauf des Achilles ist.
Schon Aristoteles war der Meinung, dass es sich in dem Schluss, Achilles könne die Schildkröte nicht einholen, um einen Fehlschluss handelt. Folgt man der Logik des Arguments, dann macht Achilles überhaupt nie seinen 12. Schritt. Aber das tut er, und zwar gleich nach dem elften: Angenommen, die Strecke ist 100 Schritte lang und Achilles braucht für 10 Schritte 1 Sekunde. Dann wäre er nach zwei Sekunden zwanzig Schritte gelaufen, die Schildkröte wäre schon nach weniger als 1,2 Sekunden überholt gewesen.
Wie kommt der Eindruck zustande, Achilles könnte die Schildkröte nicht überholen? Indem immer kleinere Distanzen und immer kleinere Zeitabschnitte betrachtet werden. Mit den hier gewählten Werten ist der nächste hinzuommmende Zeitabschnitt und die nächste hinzukommende Distanz jeweils 1/10 des vorherigen, anders ausgedrückt kommt mit jedem betrachteten Abschnitt eine Nachkommastelle hinzu. Erinnern wir uns, die Schildkröte hat einen Vorsprung von 10 Metern.
Abschnitt | Zeitverlauf | Schildkröte | Achilles |
---|---|---|---|
1 | 1 Sekunde | 11 Meter | 10 Meter |
2 | 1,1 S | 11,1 M | 11 M |
3 | 1,11 S | 11,11 M | 11,1 M |
4 | 1,111 S | 11,111 M | 11,11 M |
Die Wirkung dieser Betrachtung ist also dieselbe, wie wenn man bei der Filmaufnahme eines Wettlaufs fortwährend die Abspielgeschwindigkeit senkt (bis man beim Standbild angekommen ist). Und natürlich sieht man im Standbild keine weitere Bewegung. Gleichzeitig ist aber klar, dass der Film das ganze Rennen zeigt, auch wenn hier von den 100 Metern nur etwas mehr als die ersten 11 Meter des Achilles zu sehen sind.
Enthalten in: Bertram 2012, S. 73-79; Levy 2017, 18-23; Cohen 2010, 150-155; Baggini 2017: 46-48; Clark 2007, 1-4; Tittle 2005, 2-3, Genz 1999, 187-190; Engels 2004, 211-216; Sainsbury, 34f.; Bossart 219-222.
Douglas Hofstadter hat in seinem Kultbuch Gödel, Escher, Bach. Ein endloses geflochtenes Band Achilles und die Schildkröte zu Gesprächspartnern gemacht.